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Für einen Pass und etwas Leben

Publiziert am 2. Februar 2023 von Matthias Zehnder

Seit Alfred A. Häsler 1967 in «Das Boot ist voll» die Flüchtlingspolitik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg angeprangert hat, steht der Titel des Buchs synonym für die humanitäre Kälte der Schweiz in den 40er-Jahren. Urs Hardegger erzählt in seinem dokumentarischen Roman «Für einen Pass und etwas Leben» die Schicksale von drei jüdischen Flüchtlingen, die es auf teils komplizierten Wegen während es Zweiten Weltkriegs in die Schweiz verschlagen hat. Sie alle sind auf unterschiedliche Art und Weise mit der Kälte der Schweizer Bürokratie konfrontiert. Urs Hardegger erzählt ihre Geschichte empathisch und verknüpft die drei einzelnen Schicksale zu einem Gesamtbild. Er macht auf diese Weise erlebbar, was es für einzelne jüdische Geflüchtete hiess, dass «das Boot voll» war. In meinem 139. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es wichtig ist, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein Sachbuch, sondern um einen Roman handelt.

1942 war das Jahr der Wende im Zweiten Weltkrieg: Die Macht des nationalsozialistischen Deutschlands erreichte im Sommer 1942 ihren Höhepunkt. Am 2. November überrannte die britische Armee die Stellungen der Wehrmacht im nordafrikanischen El-Alamein. In Marokko und Algerien landeten am 7. November die Alliierten und eröffneten eine zweite Front gegen die Deutschen. Im osten sah es nicht besser aus: Am 22. November schlossen die Sowjets die deutsche 6. Armee im Kessel von Stalingrad ein. Kurze Zeit später begannen die Wehrmachtsverbände damit, sich aus dem Kaukasus zurückzuziehen. In Deutschland selbst setzten die massiven Luftangriffe der Royal Air Force der Zivilbevölkerung zu.

Wenn sie überhaupt davon wussten, konnten die Menschen in der Schweiz diese Ereignisse damals natürlich noch nicht einordnen. Die Schweiz war in einer zunehmend prekären Lage, von allen Seiten eingeschlossen von Nazi-Deutschland, mit einer ungewissen Zukunft. Trotzdem war das Land die letzte Insel in Kontinentaleuropa und wurde zur Rettung für viele Geflüchtete. Oder hätte zur Rettung vieler Geflüchteten werden können. Denn die Schweizer Behörden zeigten sich oft hart, bürokratisch und kaltherzig, auch, ja vor allem den Juden gegenüber.

Davon erzählt Urs Hardegger in seinem Roman über drei jüdische Geflüchtete. Die Erzählung setzt 1942 ein und handelt von Fanny Schulthess-Hirsch, die in einer Hilfsorganisation für jüdische Flüchtlinge in Genf arbeitet, vom niederländischen Studenten Huug von Dantzig, der in einem Lager in Cossonay interniert ist und später versucht, sich in Italien den alliierten Truppen anzuschliessen, und von Shaul Weingort, einem aus Polen stammenden Rabbiner, der nach Montreux geflüchtet ist und von dort aus verzweifelt versucht, seine Familie mit Proforma-Pässen aus dem Warschauer Getto zu retten.

Das ist vielleicht die grösste Überraschung, die ich beim Lesen dieses Buchs erlebt habe: Wie wichtig die Bürokratie war. Papiere, Pässe, Visa, Dokumente konnten Menschen retten – oder ins Verderben schicken. In der Schweiz entwickelte sich ein lebhafter Handel mit Pässen und ein ebenso intensive bürokratische Abwehrschlacht durch die «Fremdenpolizei», wie die für die Geflüchteten und Ausländer zuständige Behörde damals hiess. Fanny Schulthess-Hirsch kämpft für ihre Schützlinge immer wieder mit der Behörde. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, in dem sie selbst bald auch erfasst werden wird. Chef der Behörde war Heinrich Rothmund und zwar von 1919 bis 1955. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Umsetzung der Flüchtlingspolitik des Bundesrates.

«Mit der Schweizer Fremdenpolizei hatte Fanny ihre Erfahrungen gemacht. Sie wusste nur zu gut, wie sie funktionierte. Schikanen, die in gewisser Hinsicht zum Wesen jeder Polizei gehörten, beherrscte diese bis zur Perfektion. Es war nicht nur Pedanterie oder die Flegelhaftigkeit einzelner Beamter. Das Ganze hatte System. Man wollte abschrecken, damit Flüchtlinge gar nicht erst auf die Idee kämen, die Flucht in die Schweit zu versuchen. Jeder Flüchtling, der nicht Schweizer Boden betrat, war ein guter Flüchtling. Egal, war mit ihm weiter geschah. Dabei ging man ganz demokratisch vor, bei allen gleich. Unwichtig, ob es such um einen berühmten Künstler oder eine einfache Arbeiterin handelte. Einzig durch einen einflussreichen Schweizer Freund oder ein respektables Bankkonto liessen sie sich gelegentlich etwas milder stimmen. Der im vergangenen Jahr in Genf verstorbene Schriftsteller Robert Musil hatte sicher übertrieben, als er einmal sagte, nicht Hitler, Goebbels oder Streicher seien neudeutscher Geist, sondern Rothmund. Aber grundlos kam man nicht auf solche Gedanken.» (S. 36)

Politisch mag die Schweiz ihre Gründe gehabt haben, gegenüber Deutschland, sagen wir, zurückhaltend aufzutreten. In der Schweiz hatte diese Politik verheerende Auswirkungen. Auch davon erzählt Urs Hardegger in seinem Buch. Und zwar nicht in Form von Papieren und Dokumenten. Er erzählt davon, welche Auswirkungen diese Politik im Alltag hatte. Ganz konkret für die Geflüchteten, aber eben auch auf die Haltung und Meinung der Schweizerinnen und Schweizer.

«Käthe kam auf eine Episode zu sprechen, die sie kürzlich im Kleiderladen erlebt hattem, als eine Kundin eine andere fragte, ob sie wisse, warum man demnächst diue Schokolade rationieren müsse. Als die andere keine Antwort gab, meinte sie: «Weil uns die vielen Juden in der Schweiz die Schokolade wegessen.» Sie mussten lachen, obwohl solche törichten Behauptungen das Lachen nicht verdient hätten. Ähnliche Geschichten hielten sich auch beim Brot. Die Schweizer Behörden sahen sich kürzlich sogar zu einer Klarstellung veranlasst. Von der täglichen Brotration von 225 Gramm entfielen weniger als 0,3 Gramm auf einen Flüchtling ab. Aber diesen Leuten war mit amtlichen Erklärungen nicht zu helfen. Denn gegen Vorurteile und Ignoranz konnten in vielen Fällen selbst Fakten nichts ausrichten.» (S. 42)

Vor allem dann nicht, wenn die Haltung der Behörden die Geschichten und Vorurteile eher stützen. Das Beispiel zeigt den grossen Unterschied zwischen einem Sachbuch und einem Roman über geflüchtete Juden in der Schweiz: Urs Hardegger referiert nicht nur Fakten, sondern schildert das Geschehen auf emphatische Weise und macht uns damit 80 Jahre später möglich, die Schicksale nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen zu erfassen.

Urs Hardegger: Für einen Pass und etwas Leben. Roman, Nagel&Kimche, 240 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-312-01262-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783312012626

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 2. Februar 2022, Matthias Zehnder

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