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Freunde. Für immer

Publiziert am 8. Juni 2022 von Matthias Zehnder

Fünf ehemalige College-Freunde treffen sich zu einem Junggesellen-Wochenende in den Catskill Mountains ausserhalb von New York. Jonathan will heiraten – ein Grund, zu feiern. Auch wenn nicht alle seinen zukünftigen Mann mögen. Mit dabei ist Keith, der eine angesagte Galerie besitzt. Was er nicht weiss: Die Jungesellenfeier ist nur ein Vorwand. Seine Freunde wollen ihn dazu bringen, endlich einen Drogenentzug zu machen. Denn Keith ist seit dem College-Abschluss vor zehn Jahren Opioiden verfallen. Den Schmerz, den Keith mit den Drogen betäuben will, tragen alle fünf mit sich herum. Denn Zehn Jahre zuvor hat sich am College eine Tragödie ereignet. Alice, die sechste im Bund und damals die Freundin von Keith, konnte damit nicht leben. Sie hat sich von einer Brücke zu Tode gestürzt. Jetzt treffen sich die Freunde wieder. Und bald gibt es die nächste Leiche. Die amerikanische Autorin Kimberly McCreight hat nach ihrem Bestseller «Eine perfekte Ehe» einen weiteren Psychothriller nachgelegt. In meinem 107. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, wer das Buch lesen sollte – und wer besser nicht.

Wenn Sie studiert haben, kennen Sie sicher diese Momente: Eine letzte Studentenparty, alle liegen sich in den Armen und sind überzeugt, Freunde fürs Leben zu sein. Dann kommt der Abschluss und die Biografien splitten sich auf. Die eine macht eine steile Karriere, der zweite wird Künstler, der dritte stürzt ab. Wenige Jahre nach dem Abschluss haben die einst so eng befreundeten Studenten kaum mehr etwas zu tun miteinander.

Bei Stephanie und Maeve, Jonathan, Keith und Derrick ist das anders. Zwar ist das gemeinsame Studium am Vassar College schon zehn Jahre her, trotzdem sind die fünf Freunde immer noch eng miteinander verbunden. Allerdings nicht, weil sie sich so sympathisch oder so ähnlich wären. Es verbindet sie eine doppelte Tragödie in der Vergangenheit. Kurz vor ihrem Abschluss hat sich bei einer College-Party ein Unglück ereignet. Statt sofort die Polizei oder wenigstens Hilfe zu rufen, hatten sich die Freunde verkrümelt. Eine von ihnen, Alice, hat das nicht verkraftet und sich später das Leben genommen. Diese doppelte Tragödie hat die fünf überlebenden Freunde zusammengeschweisst zu Freunden für immer.

Deshalb haben sie sich in den Catskill Mountains im Wochenendhaus von Jonathan in Kaaterskill zur Junggesellen-Party verabredet. Offiziell wenigstens. Denn eigentlich wollen sie Keith retten. Alice, das Mädchen, das sich vor zehn Jahren umgebracht hatte, war seine Freundin. Keith hat den Schmerz über ihren Selbstmord mit Opioiden betäubt. Jetzt ist er drogenabhängig und drauf und dran, seine Galerie zu verlieren. Eine Galerie, die notabene von Jonathans Vater mitfinanziert worden ist. Dass Jonathan Keith helfen will, von den Drogen loszukommen, ist also nicht ganz selbstlos – er muss seinem Vater beweisen, dass der sein Geld nicht in den Sand gesetzt hat.

Doch aus dem fröhlichen Wochenende wird nichts. Es beginnt damit, dass Keith nicht alleine kommt, sondern Finch mitbringt, seinen wichtigsten Künstler. Finch liebt es, andere zu provozieren – nicht gerade der Partygast, der für ein friedliches Wochenende sorgt. Es stellt sich heraus, dass Jonathans Verlobter dem Bauunternehmer, der das Haus umgebaut hat, viel Geld schuldet. Und der Bauuternehmer will das Geld. Und zwar sofort. Keith hat zudem Schulden bei seinem Drogendealer und der neigt dazu, seine Schulden mit sehr unzimperlichen Methoden einzutreiben. 

Keith ist nicht der einzige Abhängige. Die Catskill Mountains sind zwar schön und abgelegen – aber kein Paradies. Auch hier wütet die Opioid-Krise: Wie in den ganzen USA sind auch in Kaaterskill viele Menschen von Opioid-Schmerzmitteln wie Oxycontin abhängig. Wenn sie das nicht mehr erhalten, steigen sie um auf Fentanyl oder Heroin. Das ist keine Fiktion: Kimberly McCreight lässt hier ein Stück traurige amerikanische Realität in ihre Geschichte einbrechen.

Das Wochenende endet damit, dass einer der fünf Freunde tot in einem Auto aufgefunden wird. Wer es ist, bleibt lange unklar, weil sein Gesicht entstellt worden ist. Und zwar auf dieselbe Art und Weise, wie das Gesicht eines Mädchens, das vor vielen Jahren in der Gegend ermordet worden ist. Die Schwester dieses Mädchens ist jetzt Polizistin. Sie wird zum Tatort gerufen und soll den Mord aufklären.

Ausnahmslos alle Menschen in dieser Geschichte sind verstrickt in ihre Vergangenheit und kommen mit der Rolle, die sie in der Gegenwart spielen, nicht mehr zurecht. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass sich grosses Unheil anbahnt. Die Figuren rasen aufeinander zu und es gibt keine Möglichkeit, dem drohenden Crash auszuweichen. Auch deshalb nicht, weil die fünf ehemaligen College-Studenten sich alle auf narzisstische Weis nur mit sich selbst beschäftigen. Kimberly McCreight erzählt die Geschichte jeweils abwechselnd aus der Perspektive einer Figur. Das führt dazu, dass die Leserin, der Leser rasch mehr weiss als die Person, aus deren Perspektive die Geschichte gerade erzählt wird. Auch deshalb kriegt man beim Lesen das Gefühl, einer Lawine zuschauen zu müssen, die langsam, aber unaufhaltsam ins Tal donnert. Das Resultat ist ein Pageturner, der zu lesen fast schon weh tut, weil die Figuren so sehr ineinander verstrickt sind und so stark in ihrer Vergangenheit gefangen sind. 

Das ist es denn auch, was mir geblieben ist und war mir zu denken gegeben hat: Sind wir, auch ohne Tragödie, wirklich die Gefangenen unserer Vergangenheit? Wie können wir uns davon lösen und frei handeln? Narzissmus ist dafür wohl kein gutes Rezept. So viel ist nach dem Buch klar. So oder so: Eine spannende Lektüre für den nächsten Aufenthalt im Wochenendhaus. Wenn Sie allerdings grad kurz vor einer Klassenzusammenkunft stehen, würde ich das Buch eher nicht lesen. Es könnte Nebenwirkungen haben…

Kimberly McCreight: Freunde. Für immer. Droemer Knaur, 368 Seiten, 23.90 Franken; ISBN: 978-3-426-28388-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783426283882

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. Juni 2022, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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