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Fremde Freunde

Publiziert am 24. Juni 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. Diese Woche: «Fremde Freunde» von Max Küng.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Saint-Jacques-aux-Bois ist ein kleines Dörfchen in der Franche-Comté in Frankreich. Es liegt zwar nicht weit hinter der Grenze zur Schweiz, ist aber so verschlafen und so dünn besiedelt, dass man sich weit weg fühlt. Hier, am Ortsrand, direkt am Kanal, liegt das Ferienhaus von Jean und Jacqueline. Ihr «Second House», wie sie es nennen. Von so einem Haus träumen wir alle. Ich jedenfalls. 

Das Haus ist fast zu schön um wahr zu sein. Es ist ein altes, grosses Haus mit einem riesigen Garten mit vielen Apfelbäumen. Jean und Jacqueline konnten es günstig kaufen. Jean, der eigentlich Hans heisst, kann in dem Haus in Frankreich seine frankophile Ader so richtig ausleben. Jean und Jacqueline führen gemeinsam eine kleine Werbeagentur. Und die hat schon bessere Tage gesehen. Das Haus liegt ihnen mittlerweile schwer auf der Tasche.

Sie haben deshalb zwei Paare auf eine Woche Leben wie Gott in Frankreich in ihr Haus eingeladen. Sie möchten den beiden eine so schöne Ferienwoche in ihrem Second House bescheren, dass die bereit sind, sich am Haus zu beteiligen. Die beiden Paare, das sind Bernhard und Veronika, er Zahnarzt, sie Grafikerin und Filipp und Salome, er Schauspieler, sie Sängerin. 

Die drei Paare sind nicht Freunde im eigentlichen Sinn. Es sind Elternabend-Bekanntschaften: Sie kennen sich, weil ihre Teenager-Buben in die gleiche Klasse zur Schule gehen. Und da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Die drei Paare könnten unterschiedlicher nicht sein. 

Jean und Jacqueline geht es geschäftlich nicht gut. Dafür sind sie am ehesten im Reinen mit sich selbst. Sie können das Leben geniessen, was bei Jean zu einer entsprechenden Leibesfülle geführt hat. sie haben sich ihren Beteiligungsplan ausgeheckt, sie haben bloss praktisch keine Kultur.

Bernhard und Veronika, der Zahnarzt und die Grafikerin, sind die Rationalen. Beide sind sie dünn, erfolgreich und etwas verbissen. Sie sind die Zyniker in der Gruppe. Sie haben vereinbart, dass sie sich trennen werden und verfolgen dabei einen Schritt-für-Schritt-Plan, den ihnen ihr Therapeut verordnet hat. Sie bewegen sich also voneinander weg.

Filipp und Salome, der Schauspieler und die Sängerin, sind die emotionalen, künstlerischen. Sie bewegen sich aufeinander zu, wenn auch aus nicht ganz lauteren Motiven (der Anwalt hat es Filipp geraten). Filipp hatte auch schone eine Affäre. Beide sind künstlerisch nicht wirklich erfolgreich, sie leben von Geld von Salomes Eltern. 

Diese drei Paare also leben für eine Woche unter einem Dach und sie machen sich dabei alle etwas vor. Das kann nicht gut gehen. Und das gerade weil die Szene mit dem Haus am Kanal so schön ist: Die Geschichte entwickelt sich wie ein Film von David Lynch – in der herrlich-schönen Oberfläche klaffen plötzlich Risse, durch die man die Katastrophe kommen sieht.

Das ist das Setting in «Fremde Freunde», dem neuen Roman von Max Küng. Er hat daraus keine laute Horrorgeschichte gemacht, sondern ein feines Kammerspiel, mit zum Geniessen präzisen Worten. Weil die Katastrophe keine apokalyptischen Ausmasse annimmt, sondern sich eher zwischen Zahnputzglas und Kloschüssel abspielt, können wir uns sehr viel mehr mit Jean und Jacqueline, mit Bernhard und Veronika und mit Filipp und Salome verbinden, als das in einem Horrorstück von Steven King der Fall wäre – und wir fühlen uns immer wieder ertappt beim Lesen.

Drei Paare fahren mit drei gleichaltrigen Söhnen eine Woche in ein lauschiges Haus in der Franche-Comté – was kann da schon schief gehen? Alles, natürlich.

Bei Max Küng kommt das Unheil nicht mit lautem Getöse, es kündigt sich leise an. Als Jean den Deckel der Dachbox auf seinem Auto öffnen will, bricht der Schlüssel ab. Salome wird schon in der ersten Nacht von einer Bettwanze gestochen. Als die drei Männer eine Rennrad-Tour à la française machen, holt sich Filipp, der sich nicht ans Radeln gewöhnt ist, eine schmerzhafte Geschwulst am Hintern. Als Bernhard die Tour auf seinem Rennrad in seinem eigenen (natürlich viel höheren) Tempo wiederholt, stürzt er bei einer Strasseneinfahrt.

Max Küng schrumpft die Katastrophe aufs Zahnputzglas – und sorgt so dafür, dass wir uns viel mehr getroffen fühlen durch die Geschichte als wenn es Mord und Totschlag gäbe. Was nicht heisst, dass es in der Geschichte nicht ums Lebendige ginge, aber zu viel wollen wir hier nicht verraten.

Ferien mit Freunden sind ein Risiko, ganz besonders wenn es «fremde Freunde» sind. Denn Ferien stehen unter Geling-Zwang. Immer. 

«In den Ferien sprechen die Menschen besonders gerne über ein bestimmtes. Thema: über Ferien, die man in der Vergangenheit gemacht hat. Sie berichten davon, wo sie  diese verbracht haben, wie lange sie dauerten, manchmal berichten sie auch davon, wie teuer die Ferien gewesen waren, denn es war eine zwar sattsam bekannte, doch immer noch allgemein gültige Gleichung: je teurer, desto schöner. Sie erzählen von ihren Eindrücken, die sie zurückbrachten wie am Strand von Son Bau gekaufte Souvenirs. Schliesslich tendiert man dazu, eher von den Eindrücken zu erzählen, die man in die Heimat mitnimmt, als von jenen, die man vor Ort gehabt hat. Vor Ort bestehen Ferien nicht selten zu grossen Teilen aus Stress, Streit und Desillusion. Ferien stehen unter Erfolgsdruck. Immer. Die mit dem Begriff Urlaub verbundenen Erwartungen sind enorm, denn eine Reise kostet stets eine schöne Stange Geld, insbesondere, wenn man mit Kindern wegfährt. Die Spanne der Erholung oder des Abenteuers ist lachhaft kurz, verglichen mit jener Zeit, die man das Jahr über im Hamsterrad verbringt. So eine verdammte Urlaubsreise, die muss einfach gelingen! Unbedingt!» (S.165)

Die Freunde stehen in den Ferien in Frankreich also unter Erfolgsdruck. Das macht es nicht einfacher, denn die drei Paare sind grundverschieden: Jean und Jacqueline sind die gutmütig-sinnlichen, aber naiv und ohne jede Kultur. Bernhard und Veronika sind die rational-erfolgreichen, aber ohne jede Empathie. Filipp und Salome sind die künstlerisch-emotionalen, aber erfolglos und nicht rational.

So verschieden die drei Paare sind, sie haben doch zwei Dinge gemeinsam: Sie haben alle einen Sohn im Teenager-Alter – und die drei Söhne verstehen sich, in Gegensatz zu ihren Eltern, prächtig. Während die Söhne im Kinderzimmer gamen, umkreisen sich die Eltern wie Raubkatzen, die neu ins selbe Gehege verlegt worden sind. Alle drei Paare fühlen sich den beiden anderen überlegen – und sie machen sich alle etwas vor.

Jean  und Jacqueline geben das glückliche Hausbesitzerpaar – in Tat und Wahrheit können sie sich das Haus kaum mehr leisten und wollen Beteiligungen daran verkaufen. Bernhard und Veronika geben das erfolgreiche Akademikerpaar, tatsächlich haben sie sich schon lange nichts mehr zu sagen, die Trennung ist schon eingeleitet. Filipp und Salome geben das erfolgreiche Künstlerpaar, in Wirklichkeit leben sie vom Geld der Eltern von Salome. Alle machen sie sich etwas vor – und man sieht die Strafe dafür förmlich kommen. 

Das könnte zynisch klingen, ist es aber nicht. Max Küng erzählt es mit viel Charme, aber mit unerbittlichem Blick für die kleinen Schwächen. Ich habe ihn deshalb gefragt, ob er sich noch unter seine Freunde traut. Das ganze Gespräch mit Max Küng finden Sie hier:

Er beobachtet seine Figuren mit unerbittlichem Blick und legt ihre Schwächen gnadenlos offen, trotzdem hatte ich beim Lesen immer das Gefühl, dass er seine Figuren gern hat und sie und ihre Schwächen versteht. Er driftet nie ins Zynische ab. Als Leser fühle ich mich seinen Figuren nah – und entdecke deren Schwächen auch bei mir.

Auch wenn die ganz grosse Katastrophe ausbleibt, entwickelt Max Küng mit seiner Geschichte einen erzählerischen Sog. Oder besser: gerade weil die ganz grosse Katastrophe ausbleibt, können wir uns mit den Menschen und ihren Schwächen, von denen er mit unerbittlichem Blick, aber in freundlichen Worten erzählt, verbinden und vieles auf uns beziehen. 

Max Küng: Fremde Freunde. Roman. Kein & Aber, 432 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-0369-5838-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036958385

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 24. Juni 2021, Matthias Zehnder

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