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Finsternis am Vierwaldstättersee

Publiziert am 23. November 2023 von Matthias Zehnder

In der Schweiz gibt es 220 grosse Staumauern mit teils riesigen Stauseen und rund tausend kleinere Stauanlagen. Gemeinsam ist den Anlagen, dass ein Stauwehr Wasser zurückhält und zu einem See staut. Das Tal hinter der Mauer wird überflutet. Auf diese Weise sind in der Schweiz nicht nur ganze Täler, sondern mit ihnen auch viele Dörfer im Wasser untergegangen. Wohnhäusern, Kirchen und sogar Friedhöfe versanken in den Stauseen. Eines dieser Dörfer war Göscheneralp im Gotthard-Gebiet, eine der am höchsten gelegenen Siedlungen in der Schweiz. 1963 versank das Dorf für immer in den Fluten, 100 Menschen mussten umgesiedelt werden. Im Krimi von Martin Widmer wird dieser Stausee zu einem starken Bild dafür, dass sich Vergangenheit zwar fluten lässt, sie deswegen aber nicht ausradiert ist. In seinem neuen Krimi verknüpft er mehrere Ereignisse der Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Eine grosse Industriefusion, die gewaltsame Verwandlung eines Bergdorfs in einen Hotspot für globale Touristen, der Absturz einer Tageszeitung. Doch die Vergangenheit ist nur geflutet, nicht vergessen. In meinem 181. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die Lektüre dieses Krimis auch dann lohnt, wenn Sie mit Krimis nichts am Hut haben.

Marmorera, Innerthal, Zervreila, Emosson oder Göscheneralp sind ganz unterschiedliche Dörfer. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle untergegangen sind: Es sind durch Stauseen überflutete Orte in der Schweiz. Nach dem Bau der Talsperre wurde die Bevölkerung umgesiedelt und das Tal überflutet. Bis heute liegen auf dem Grund der Stauseen die Ruinen der Dörfer. Wenn die Spiegel der Stauseen im Sommer abfallen, tauchen die versunkenen Landschaften manchmal auf. Die Bäume reduziert zu schwarzen Stummeln, Mahnmale, die an das erinnern, was hier einst blühte. Die Dörfer sind vergangen und versunken, vergessen sind sie nicht.

Als am Rand des Göscheneralpsees die Leiche eines Mannes gefunden wird, muss Kriminalkommissarin Rahel Reinhart tief in die Vergangenheit abtauchen: in die Vergangenheit des Mannes, aber auch des Sees, ja der ganzen Region. Wie im ersten Krimi der Vierwaldstättersee-Reihe erhält sie dabei Unterstützung von Konrad Mattmann, Skandinavienkorrespondenz der «NZZ». Reinhart zieht den Journalisten bei, weil der Tote ursprünglich aus Schweden stammt und sie einen Übersetzer für schwedische Texte braucht. Oder ist das nur eine Ausrede? Denn vor über 30 Jahren waren Mattmann und Reinhart ein Paar. Hätte Mattmann nicht die Stelle als Auslandskorrespondent in Australien angenommen, hätten sie vielleicht geheiratet. Jetzt lebt Mattmann längst in Stockholm und ist mit einer Kinderärztin verheiratet. Doch die Vergangenheit lässt sich nicht abstreifen.

Der Krimi von Martin Widmer ist keine simple Detektivgeschichte. Der Kriminalfall ist vielmehr Anlass für eine Beschäftigung mit der Frage, was passiert, wenn die Vergangenheit nicht verarbeitet, sondern nur geflutet wird. Wie das Dorf im Stausee. Oder die Fusion des schwedischen Unternehmens Asea mit der stolzen Schweizer Industriefirma BBC zur ABB. Wobei Fusion wohl der falsche Ausdruck ist: Wie der Stausee das Dorf Göscheneralp geschluckt hat, hat die Asea die BBC geschluckt. Zum Thema wird das im Buch, weil der fiktive tote Mann vom Stausee die linke Hand jenes schwedischen Managers war, der die Übernahme verantwortete. Dieser Manager ist real: Er hiess Percy Barnevik und war nach der Fusion der beiden Firmen Verwaltungsratspräsident der Asea Brown Boveri. 2002 verliess er das Unternehmen, nachdem er sich selbst eine Bonuszahlung von 148 Mio. Franken genehmigt hatte.

So, wie die Region Göschenen das Fluten des Alpdorfs bis heute nicht recht verdaut hat, haben die ehemaligen Angestellten der BBC in Baden es bis heute nicht recht verarbeitet, wie ihre Traditionsfirma von der schwedischen Asea einverleibt wurde. Im See sind bis heute die schwarzen Stümpfe der Bäume sichtbar. Bei den Menschen sind es Geschichten, die wie Stümpfe aus ihren Seelen ragen. Solchen Geschichten geht Martin Widmer mit seinem Ermittlerduo auf den Grund. Zum Beispiel in Andermatt, wo ein märchenhaft reicher ägyptischer Investor das Bergdorf aus seinem Dornröschenschlaf geweckt und in eine glitzernde Tourismuslandschaft für globale Fünfsterntouristen verwandelt hat. Der Tote vom Göscheneralpsee hatte ein ähnliches Projekt. Bei ihm ging es um Baumhotels der Luxusklasse am Vierwaldstättersee. Die Menschen, die vom Hotelprojekt «geflutet» werden sollten, sind hier nicht Dorfbewohner oder Fabrikarbeiter, sondern Künstler, Zwischennutzer, Barbetreiber.

Und dann taucht noch etwas aus der Vergangenheit auf: Es ist die Geschichte von Konrad Mattmann selbst. Seine alte Liebe zu Rahel Reinhart, seine Vergangenheit als Journalist, sein Abschied aus der Schweiz vor vielen Jahren. Seine Tage als Auslandkorrespondent sind gezählt. Er wird auf die Redaktion zitiert. Da haben jetzt junge, smarte Manager das Sagen, die Klicks verwalten und Attention erzielen wollen. Lange Texte aus Schweden sind nicht mehr gefragt. Skandinavien lässt sich auch vom Newsdesk in Zürich abdecken.

Mattmann wird vor die Wahl gestellt: Entweder wechselt er an eben dieses Newsdesk, oder er muss aus dem Dienst der Zeitung ausscheiden. Aber was dann? Soll er sich für Schweden und seine Frau entscheiden, die sich da gerade in ein baufälliges Sommerhaus an der Ostsee verliebt hat? Soll er da am Meer als freier Journalist in Freiheit schreiben oder besser in Zürich anheuern auf der sicheren Redaktion? Soll er Trauerredner werden wie ein anderer Kollege, der dem Journalismus den Rücken gekehrt hat, oder soll er sich mit Rahel Reinhart zusammentun und seiner Lust an der Ermittlung frönen?

Auch in seinem neuen Krimi zeigt Martin Widmer, dass die kleine Schweiz viele historische Stoffe bietet für grosse Geschichten. Insbesondere die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Dass Widmer es schafft, diese Geschichte von Firmen, Fusionen und Finanzen anhand von persönlichen Schicksalen zu erzählen, macht sein Buch lesenswert.

Martin Widmer: Finsternis am Vierwaldstättersee. Kriminalroman. Emons Verlag, 272 Seiten, 23.50 Franken; ISBN 978-3-7408-1867-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783740818678

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Basel, 23. November 2023, Matthias Zehnder

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