Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Demon Copperhead
Letzter Tipp: Wild Herbeigesehntes

Falcone

Publiziert am 24. April 2024 von Matthias Zehnder

Giovanni Falcone gilt als die Symbolfigur des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität auf Sizilien, als Inbegriff des Mafia-Jägers. Ihm ist es zum ersten Mal gelungen, die Omertà, den Schweigekodex der Mafia, zu knacken. Mitte der 80er Jahre leitete er als Untersuchungsrichter in Palermo den bis dahin grössten Prozess gegen rund 400 Mitglieder des organisierten Verbrechens auf Sizilien. Falcone wurde vom Staat geschützt, sein Aufenthaltsort war geheim. Aber er wurde verraten und 1992 mit grösster Gewalt ermordet. Einer, der weiss, wie es sich anfühlt, auf der Todesliste der Mafia zu stehen, ist der italienische Autor und Journalist Roberto Saviano. 2006 hat er in einem Tatsachenroman die Machenschaften der Camorra beschrieben, des organisierten Verbrechens in Neapel. Seither lebt er unter Mordandrohung und muss jeden zweiten Tag seinen Aufenthaltsort wechseln. Jetzt hat Roberto Saviano die Geschichte des Mafia-Jägers Giovanni Falcone aufgeschrieben. Es ist ein packendes Buch, ein Bericht, der einem nahe geht. In meinem 201. Buchtipp sage ich Ihnen, warum ich Ihnen davon abrate das Buch zu lesen, wenn Ihnen Ihr Schlaf wichtig ist.

Am Samstag, dem 23. Mai 1992, genau um 17.57 Uhr, erschüttert eine gewaltige Explosion die Autobahn Palermo–Mazara del Vallo. In der Fahrbahn öffnet sich ein Loch so gross wie ein Mondkrater. Im geophysikalischen Observatorium auf dem Monte Cammarata, über hundert Kilometer weit weg von der Explosion, zeichnen die Seismographen Schwingungen wie bei einem Erdbeben auf. Es ist tatsächlich ein Erdbeben, das Sizilien erschüttert. Ein menschgemachtes Erdbeben, ausgelöst durch 500 Kilogramm TNT, die in einem Drainage-Rohr unter der Autobahn per Fernsteuerung gezündet worden waren. Das Erdbeben erschüttert nicht nur Sizilien, sondern ganz Italien, ja Europa. Denn die Explosion reisst Giovanni Falcone und seine Frau Francesca in den Tod. Das ist das Ende, auf das die Geschichte von Roberto Saviano unaufhaltsam zusteuert. Wir alle kennen das Ende aus Funk und Fernsehen, wie man so schön sagt. Trotzdem hofft man im Verlauf der Lektüre wider besseren Wissens, dass diesmal das Gute, oder besser: der Gute überlebt. Vergeblich: Es ist das furchtbare Ende einer furchtbaren Geschichte.

In vielen Romanen steht in der Vorbemerkung: «Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig.» Und dann kann man sich wohlig einer erfunden Geschichte hingeben und darauf vertrauen, dass die Autorin, der Autor das Ende schon schaukeln wird. In der Vorbemerkung dieses Buchs versichert Roberto Saviano: «Alle auftretenden Personen hat es wirklich gegeben, jedes Ereignis ist tatsächlich geschehen. All das ist gewesen.» Als wäre es nicht schon schlimm genug.

Für einmal muss sich auch meinen Buchtipp mit einer Vorbemerkung versehen: Normalerweise empfehle ich Ihnen Bücher, in die sie bedenkenlos eintauchen können. Das ist bei «Falcone» anders. Es kommt ganz selten vor, dass mich ein Buch belastet. Als ich diesen Roman las, hatte ich Alpträume. Nicht etwa, weil Roberto Saviano besonders blutdrünstig schreiben oder besonders schreckliche Szenen beschreiben würde. Es ist umgekehrt: Das Fürchterliche ist die Alltäglichkeit der Szenen. Da geht es um Bankdirektoren und um Barbesitzer, um Arbeiter und Bauern und immer wieder um Anwälte, Untersuchungsrichter und Richter. Das Personal ist gutbürgerlich, die Geschäfte lukrativ. Bis wieder ein Richter oder ein Staatsanwalt ermordet wird, weil er der Mafia zu nahe gekommen ist.

Was mich besonders bedrückt hat, ist die Ausweglosigkeit. Die Menschen müssen sich entscheiden: Entweder schlagen sie sich auf die Seite des Verbrechens und helfen mit, zu töten, oder sie entscheiden sich für die Seite des Gesetzes und werden getötet. Entweder – oder; dazwischen gibt es nichts. Unbestechlichkeit ist tödlich.

Da ist zum Beispiel der Spatola-Prozess. Ein Geflecht von Schecks, Giro-Konten, Scheinfirmen, öffentlichen Aufträgen – und Heroin. Giovanni Falcone übernimmt den Prozess 1982. Sein Vorgänger war Staatsanwalt Gaetano Costa. Er wurde am 6. August 1980 mit drei Schüssen aus einer Walther P38 getötet, von hinten, während er an einem Bücherstand in der Via Cavour ganz in der Nähe seiner Wohnung in Büchern blätterte. Costa wurde ermordet, nachdem er eine Handvoll Haftbefehle gegen Rosario Spatola und seine Kumpane unterschrieben hatte. Haftbefehle, die seine Kollegen aus dem einen oder anderen Grund nicht hatten unterschreiben wollen. Nach der Ermordung von Gaetano Costa liegt der Fall jetzt auf dem Schreibtisch von Giovanni Falcone.

Es scheint, dass dieser Staat krank ist, dass einige seiner Zellen sich gegen ihn auflehnen und dass sein Immunsystem – Männer wie Costa und Terranova zum Beispiel – ein Restbestand ist, der von seinem Organismus selbst in eine Ecke abgeschoben wurde. Allein gelassen, geschwächt. Nach und nach, Mutation für Mutation, verfallen, bis der gesunde Teil sich kaum mehr vom kranken Teil unterscheiden lässt. Die Sabotage gegen die gesunden Zellen ist systematisch, und geht schrittweise vor. (S. 67)

Und weiter: Darum spürt Giovanni Falcone, wenn er in diesem Moment an seinem Schreibtisch sitzt, nicht zu Unrecht jenes Messer von damals an seinem Hals. Weniger wegen des Gedankens, dass jemand ihn töten will – das ist eine andere Rechnung, und sie ist kein Messer, sondern ein Felsbrocken, eine untilgbare Hypothek auf sein Leben, mit der er vor vielen Jahren seinen Frieden gemacht hat. Nein, eher wegen des Gefühls, zu einem Organismus zu gehören, in dem die schädlichen Zellen alles tun, um die gesunden zu zerstören, wie bei den schlimmsten Krankheiten. (S. 69)

Roberto Saviano vermittelt die Geschichte von Giovanni Falcone auf zwei Ebenen: Chronologisch erzählt er die Jahre von 1982 bis 1992, also die letzten zehn Lebensjahre von Falcone. Eingestreut sind aber immer wieder Rückblenden, einerseits sind es Erinnerungen an die früheren Jahre von Falcone, etwa als er 1976 als Richter in Trapani arbeitete, andererseits sind es Rückblenden in die Geschichte der Mafia. Das Buch beginnt denn auch mit einer solchen Rückblende ins Jahr 1943, als sich in Corleone eine grosse Explosion ereignet. Giovanni Riina, ein Bauer aus Corleone, hatte eine amerikanische Granate gefunden. Er wollte den Blindgänger entschärfen. Mit dem Verkauf des Sprengstoffs an die Fischer im Dorf verdiente er ein Zubrot in den kargen Kriegstagen. Diesmal verschätzte sich Giovanni aber und sprengte sich und seine Söhne in die Luft. Der jüngste seiner Söhne ist zwölf Jahre alt. Er überlebte Explosion unversehrt. Sein Name ist Salvatore, genannt Totò. Wenige Jahre später, als er 19 Jahre alt ist, begeht er seinen ersten Mord. Totò Riina wird zum «Capo di tutti i capi», zum Boss der Bosse in der Mafia. Am Ende des Buchs wird es dieser Totò Riina sein, der Giovanni Falcone mit einer Bombe ermordet. Das Buch ist also eingerahmt von zwei gewaltigen Explosionen, die beide einen Giovanni das Leben kosten.

Giovanni Falcone ist es jederzeit bewusst, auf was er sich einlässt. Er weiss, dass ihn der Kampf gegen die Mafia jederzeit das Leben kosten kann. Auch seine Vorgesetzten wissen das. Als ihn sein Chef fragt, ob es ihm zu viel wird, ob er sich versetzen lassen möchte, antwortet Falcone, dass er nicht daran denke. Dass er nicht ein einziges Mal daran gedacht habe. Er fühle sich wohl hier in Palermo.

Das stimmt nicht ganz, genau genommen. Falcone fühlt sich nicht wohl dort, wo er ist. Sonst wäre es ja einfach. Aber es ist schwierig. Schwierig am Morgen, wenn er die Augen öffnet, sich zu Francesca umdreht und nicht weiss, ob er sie am Abend wiedersehen wird. Schwierig, wenn er sich beim Abschied zwingt, ihr zuzulächeln, obwohl sie gerade gestritten haben – vor allem, wenn sie gestritten haben – denn man muss eine gute Erinnerung hinterlassen. Schwierig, wenn er ins Auto steigt, der Fahrer den Zündschlüssel umdreht und jedes Mal Russisch-Roulette spielt. Wenn er ins Gericht kommt und mit gesenktem Kopf gehen muss, um das Flüstern und Murmeln zu ignorieren: «Batman ist da!», «Ein Mann sieht rot!», «Der Sheriff!». Es geht nicht darum, ob man sich wohlfühlt oder nicht, es geht darum, das einzig Mögliche zu tun. Als er die Akten des Spatola-Prozesses in die Hand nahm, hat er ein leises Klicken gehört. Wie ein Mosaikstein, der an der richtigen Stelle einrastet. Was dann folgte, der Druck, die Versuche, ihn zu behindern, die Eingriffe des Staatsanwalts Pizzillo, hat das Mosaik lediglich verfestigt. Jetzt kann keiner mehr die Bruchstücke voneinander trennen. Es gibt keine Bruchstücke mehr. Es gibt nur noch ein einziges Bild. Und das ist kein erfreuliches, befriedigendes Bild. Es ist ein Bild, mehr nicht. Seine Asthetik ist präzise, die Logik seiner Komposition bedrohlich, aber unbestreitbar. Heute, in diesem Augenblick, an diesem Ort, ist alles klar. Das spürt Giovanni, und es ist ihm egal, ob diese Tatsache traurig, gefährlich oder voll dunkler Vorahnungen ist. Er könnte nichts anderes tun als das, was er tut. (Seite 110)

Francesca ist zu diesem Zeitpunkt seine Geliebte, seine Verlobte, wie er sagt. Später heiraten die beiden.  Francesca Morvillo ist Jugendrichterin in Palermo. 1982 werden die beiden vom Gerichtspräsidenten gerügt, weil sie eine Beziehung haben. Bestechung, das Verschleppen von Prozessen, Unterlagen, die verschwinden – das alles ist im Gericht von Palermo an der Tagesordnung und wird mit Schulterzucken hingenommen. Aber dass Untersuchungsrichter Giovanni Falcone und Jugendrichterin Francesca Morvillo sich lieben und eine Beziehung haben, das führt zu moralischer Aufruhr und wird gerügt. Als die beiden unter sich sind, kann Giovanni sich für einmal nicht mehr beherrschen. Er sagt zu Francesca:

«Scheiß doch drauf! Wir haben nichts falsch gemacht. Wir sind keine heimlichen Geliebten, wir sind ehrliche Menschen. Hast du verstanden?» Sein Gesicht kommt näher, bis ihre Nasen sich berühren. «Wir sind ehrliche Menschen, und Ehrlichkeit hat ihren Preis. Sonst wäre es ja einfach. Wer Verdienste hat, wird in den Dreck gezogen. Wenn wir für unsere Ehrlichkeit bezahlen müssen, werden wir bezahlen.» Sie schluchzt. Zieht an ihrer Zigarette. «Erschreckt dich das?» Francesca schüttelt den Kopf. «Mich auch nicht. Mit uns ist alles in Ordnung.» (Seite 134)

Das ist das Erschütternde an diesem Buch: zu merken, dass Ehrlichkeit zu dieser Zeit in Italien einen Preis hat. Einen hohen Preis. Giovanni Falcone hat dafür mit seinem Leben bezahlt. Roberto Saviano ist mit seinem Buch über Falcone ein packendes Buch über die Mafia gelungen. Er zeigt, wie stark die ehrenwerte Gesellschaft verstrickt ist mit dem organisierten Verbrechen – und vor allem, welche Konsequenzen das für die Menschen hat. Mich hat das Buch bis in meine Träume beschäftigt und verfolgt. Es ist keine leichte Lektüre. Aber eine wichtige.

Roberto Saviano: Falcone. Hanser, 544 Seiten, 44.5 Franken; ISBN 978-3-446-27950-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279506

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 24. April 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/