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Elizabeth Finch
«Elizabeth Finch», der neue Roman von Julian Barnes, ist eine ungewöhnliche Geschichte: Es geht dabei um die Liebe, das Leben und die Götter. Und um einen römischen Kaiser. Elizabeth Finch unterrichtet an der Abenduniversität ein Seminar über Kultur und Zivilisation. Sie beeindruckt Erzähler Neil so stark, dass er sich noch zwanzig Jahre nach Abschluss seiner Ausbildung mit seiner ehemaligen Professorin zum Lunch trifft. Nach ihrem Tod vermacht sie ihm ihren Nachlass. Neil setzt ihr ein Denkmal, indem er von ihr erzählt und ihre Schriften herausgibt. Eingestreut in die Erzählung sind weise Zitate der fiktiven Frau Finch – das macht den Roman zur perfekten Lektüre für den Jahresanfang. In meinem 135. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum der Roman irritiert und dennoch beste Unterhaltung bietet.
Elizabeth Finch ist eine fiktive Hochschullehrerin, die an der Abenduniversität in London ein Seminar mit dem «Kultur und Zivilisation» gibt. Sie stellt sich ohne Notizen, Bücher und Nervosität vor ihre Studenten, die alle zwischen Ende zwanzig und Anfang vierzig sind, und führt mit ihnen einen Dialog über – nun ja: Kultur und Zivilisation. Elizabeth Finch ist Stoikerin. Ihr Unterricht ist auf eine ganzheitliche Welterfassung ausgerichtet. Sie selbst übt sich in Gelassenheit und Selbstbeherrschung. Das wirkt in unserer aufgeregten Zeit geradezu wohltuend.
«Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen zu helfen», sagt Elizabeth Finch. Sie sei hier, um zur Seite zu stehen, wenn ihre Schülerinnen und Schüler sich im Denken und Argumentieren üben und eine eigene Meinung entwickeln. In ihrem eigenen Denken ist sie rigoros, ja erbarmungslos, setzt sich aber nie verächtlich über die Ideen und Beiträge ihrer Studenten hinweg, auch wenn sie noch so dürftig oder gefühlsduselig sind. Als Stoikerin ist Elizabeth Finch Selbstmitleid fremd, ja sie findet es vulgär. Sie beschäftigt sich nicht mit sich selbst, sondern mit der Welt und ihrer Geschichte.
Mit ihr beschäftigt sich dafür Neil. Er studiert bei ihr und verehrt sie sofort. Es ist quasi Schülerliebe auf den ersten Blick, wobei es sich beim Schüler um einen geschiedenen, alleinerziehenden Mann handelt. Neil hält auch nach Abschluss seiner Ausbildung den Kontakt mit EF, wie er sie nennt, aufrecht und geht regelmässig mit ihr essen. Die Rechnung zahlte sie, dafür bringt Neil jeweils ein Thema auf. «In ihrer Gegenwart war ich klüger. Ich wusste mehr, ich konnte besser argumentieren; und ich wollte ihr unbedingt Freude bereiten», sagt Neil über die Essen. Oder besser: Schreibt er. Denn der erste Teil des Buchs ist eine Ode an die Lehrerin.
Nach ihrem Tod vermacht Finch ihrem Schüler ihre Bücher und Notizen, darunter viel Material über den römischen Kaiser Julian Apostata. Flavius Claudius Iulianus regierte von 360 bis 363 als Kaiser das römische Reich. In christlichen Quellen wird dieser Julian mit dem Beinamen «Apostata» versehen, also der Abtrünnige, weil er versucht hatte, das Christentum zurückzudrängen und wieder die römischen respektive griechischen Gottheiten einführen und so den aufkommenden Monotheismus mit dem antiken Polytheismus ersetzen wollte. Elizabeth Finch imponiert das, weil ihr alles, was «mono» war, bemitleidenswert vorkommt:
«‹Monotheismus›, sagte Elizabeth Finch. ‹Monomanie. Monogamie. Monotonie. Was so anfängt, kann nichts Gutes sein.› Sie machte eine kurze Pause. ‹Monogramm – ein Zeichen von Eitelkeit. Dito Monokel. Monokultur – Wegbereiter des Sterbens des ländlichen Europa. Ich bin bereit, die Nützlichkeit von Monografien einzuräumen. Es gibt viele neutrale wissenschaftliche Termini, die ich ebenfalls bereit bin, gelten zu lassen. Doch wenn sich das Präfix auf menschliche Angelegenheiten bezieht … monoglott, das Kennzeichen eines Landes, das sich abschottet und sich selbst betrügt. Der Monokini, komische Etymologie und komisches Kleidungsstück. Monopole – und ich meine Monopole, nicht Monopoly – immer eine Katastrophe, wenn man lange genug wartet. Monarchie: ein bemitleidenswerter, aber kein erstrebenswerter Zustand. Gibt es dazu Fragen?›» (S. 19)
Diese Skepsis gegenüber Monotheismus, Monologen und Monotonie steht natürlich im Widerspruch zum Buch, das ganz dieser einen Lehrperson gewidmet ist. Was die etwas sperrige Struktur des Buchs erklärt: Denn formal ist das Buch alles andere also «mono». Ein erster Teil widmet sich dem Porträt von Elizabeth Finch. Im zweiten Teil wertet Schüler Neil den Nachlass seiner Lehrerin aus. Dieser Teil dreht sich stark um den römischen Kaiser Julian Apostata. Im dritten Teil bricht Julian Barnes das Monologische der Darstellung auf: Hier redet Schüler Neil mit ehemaligen Kommilitonen über seine verehrte Lehrerin. Dabei treten die Themen des Buchs offen zutage: Was ist Liebe? Was ein gelungenes Leben? Und es wird klar, dass das Bild, das ich mir von einem Menschen und seinem Leben mache, mehr über mich selbst aussagt als über den Menschen. Kurz: Julian Barnes bietet in seinem Buch ein vertrackt-intelligentes Porträt eines Menschen und seiner Liebe, das uns zum Nachdenken über uns selbst bringt. Was will man mehr.
Julian Barnes: Elizabeth Finch. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 240 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-462-00327-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462003277
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Basel, 5. Januar 2022, Matthias Zehnder
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