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Einsteins Hirn

Publiziert am 16. Februar 2023 von Matthias Zehnder

«Einsteins Hirn» heisst Franzobels neuer Roman. Und das Verrückte an der Geschichte ist: Sie ist wahr. Am 18. April 1955 stirbt Albert Einstein im Princeton Hospital, New Jersey. Er ist 76 Jahre alt. Thomas Harvey, der Pathologe am Spital, nimmt die Autopsie vor. Der Fall ist klar: Einstein ist an einem Aortenaneurysma gestorben. Es gäbe keinen Grund, weitere Untersuchungen an der Leiche vorzunehmen. Trotzdem eröffnet Harvey Einsteins Schädel und entnimmt ihm das Gehirn. Er will dem Genie Einsteins auf die Spur kommen. Harvey sieht in Einsteins Hirn die Chance, aus dem Keller der Pathologie zu entkommen. Allerdings ist er nicht einmal Neurologe. So schleppt er das Gehirn jahrelang in einem Einmachglas voll Formaldehyd mit sich herum. In seinem Buch verwandelt Franzobel die wahre Lebensgeschichte des Pathologen in ein groteskes Roadmovie durch die amerikanische Geschichte seit den 50er-Jahren. In meinem 141. Buchtipp sage ich Ihnen, warum das Buch auch dann höchst lesenswert ist, wenn Sie mit Physik absolut nichts am Hut haben. Oder im Hirn, wenn wir beim Thema bleiben wollen.

Es ist eine Geschichte wie gemacht für einen Erzähler wie den österreichischen Schriftsteller Franzobel. Und dazu ist sie auch noch wahr: Eigentlich hatte Albert Einstein testamentarisch verfügt, dass sein Körper an seinem Todestag verbrannt und seine Asche an einem unbekannten Ort verstreut werde. Einstein war im Spital gestorben, weil er schon länger an einer krankhaften Erweiterung der Aorta litt, einem Aortenaneurysma. Thomas Harvey, Pathologe am Spital, nahm an Einsteins Leiche deshalb eine Autopsie vor und stellte rasch fest, dass Einstein tatsächlich an inneren Blutungen gestorben war, weil die krankhafte Erweiterung seiner Aorta geplatzt war. Statt den Körper zu verschliessen, entnahm der Pathologe dem Leichnam aber noch das Gehirn und die Augen. Motto: Was solls, der Leichnam wird ja eh verbrannt.

Die Augen riss sich Einsteins Hausarzt unter den Nagel. Sie sollen später in den Besitz von Michael Jackson geraten sein. Das Hirn klaute Thomas Harvey selbst. Jahrelang versuchte Harvey, dem Genie im Gehirn auf die Spur zu kommen. Er schleppte deshalb das Präparat ein langes Leben lang im Einmachglas mit sich herum. 2007 starb Harvey, übrigens an einem Hirnschlag. Seither liegen die Überreste von Einsteins Hirn im National Museum of Health and Medicine.

Eigentlich ist ja diese wahre Geschichte schon so grotesk, dass man als Romancier kaum mehr etwas dazufügen muss. Franzobel tut es trotzdem: In seiner Version beginnt das Gehirn irgendwann mit dem Pathologen zu sprechen. Das Leben des Pathologen gerät aus der Bahn. Er wechselt die Jobs, die Wohnorte und die Frauen. Nur dem Gehirn bleibt er treu. Das schleppt er in Einmachgläsern mit sich herum. Gemeinsam erleben sie die amerikanische Zeitgeschichte: die Wahl John F. Kennedys zum Präsidenten, die erste Landung auf dem Mond, Woodstock, LSD und Watergate. Die beiden lernen eine RAF-Terroristin kennen und besuchen in Moskau Einsteins letzte Geliebte, die Spionin Margarita Konenkova. Das Hirn und sein Pathologe kreisen dabei immer wieder um die Beziehung zum Vater, um Frauen und um Religion.

Geschrieben ist das in einer Sprache, die ich als schmissig-poetisch bezeichnen möchte: So präzise wie ein Gedicht Bob Dylan und so schmissig wie eines seiner Lieder. Schon wie der tote Einstein eingeführt wird, zeigt diese Balance aus Präzision, Poesie und Pop in der Sprache:

«Albert Einstein war ein alter schnauzbärtiger Mann mit Tränensäcken und gutmütigem Dackelblick, um den ein verrückter Personenkult betrieben wurde. Er hatte die Welt vom Irrglauben der Newton’schen Gravitation befreit und eine Erlösung verkündet, die niemand verstand. Er anerkannte nur einen Gott, die Lichtgeschwindigkeit, nur ein Evangelium, die Raumzeitkrümmung, und die ganze Welt rannte diesem neuen Messias hinterher, betete ihn an. In seiner Bettfestung aber war er ein klappriger alter Mann, umwölkt von einer Geruchsmischung aus leichter Inkontinenz, Gelenksalbe, Kampfer und Mundgeruch, gewesen.» (S. 22)

Im Spital fallen alle Hüllen, erst recht auf dem Totenbett. Vor dem Pathologen hat niemand mehr Geheimnisse. Meint Thomas Harvey. Es sollte sich als sein grösster Irrtum entpuppen: Denn allen Untersuchungen zum trotz wird er dem Geheimnis des Genies nicht auf die Spur kommen. Und auch der Liebe, der Religion und ein paar anderen Geheimnissen nicht. Ein erstes Mal wird diese Diskrepanz zwischen dem Lüften aller medizinisch-physikalischen Schleier und der Unmöglichkeit, den Gedanken und Gefühlen auf die Spur zu kommen, sichtbar, als Harvey während der Autopsie Einsteins Gehirn der Schädelhöhle entnimmt:

«Harvey griff in den Schädel wie ein Bäcker in eine volle Kuchenform, tastete sich entlang des Steges nach unten und trennte das Hirn vom Rückenmark. Dann hob er es leicht an, durchschnitt Arterien und pumpte mit einem kleinen Sauger Flüssigkeit ab. Er durchtrennte Nerven, die das Hirn mit dem Auge verbanden, streckte seine Finger, so weit er konnte, kappte die verbliebenen Verbindungen und hob das Hirn vorsichtig wie eine Hebamme ein Frischgeborenes heraus. Es war glitschig, umsponnen von einem feinen, gazeartigen Netz an Äderchen. Er legte es auf die Waage: 2,711 Pfund.
Harvey konnte nicht glauben, was er sah, tippte auf das Glas der Anzeige, doch der Zeiger bewegte sich nicht. 2,711! Einsteins Hirn war leichter als der Durchschnitt. Diese Masse, dessen glänzendes Elfenbeinrosa bis in die Ewigkeit reichte, dieses Gewebe, worin das Universum zu Ende gedacht worden war, wog weniger als der Denkapparat eines durchschnittlichen Dorftrottels. Wie kann das sein? Harvey war kein Nachkomme der Schädelmesser, die von einem Zusammenhang zwischen Kopfgröße und Intelligenz ausgingen, weil dann wären Wale die intelligentesten Säugetiere und Grönländer die klügsten Menschen. Aber 2,711 Pfund? Er ließ das Hirn langsam in ein mit Formaldehyd gefülltes Gefäß gleiten.» (S. 32)

Harvey versucht, in der Realität und im Buch, diesem Paradoxon auf die Spur zu kommen. Vergeblich. Er verschickt Schnitte von Einsteins Hirn an die führenden Hirnforscher seiner Zeit. Ohne Resultat. Ein Neurologe stellt fest, dass die Zellen für einen Mann in Einsteins Alter gut erhalten sind. Ein anderer meint, ohne Vergleichsobjekte lasse sich nichts sagen. Die meisten schweigen – und Harvey selbst verzweifelt an seiner Aufgabe. Schliesslich hat er Einsteins Hirn in über tausend Einzelteile zerschnitten. Nur noch ein Teil davon ist in Harveys Besitz, und doch fühlte er sich wie Zwerg Alberich, Hüter des Nibelungenschatzes. «Dieses Gehirn hatte Zeit und Raum ausgehebelt, das gesamte Universum erfasst, war Gott auf die Schliche gekommen … und befand sich jetzt in seinem Keller.» Und dann beginnt das Hirn oder das, was davon in seinem Keller übrig geblieben ist, mit Harvey zu sprechen. Und statt die Weltformel zu verraten oder zu sagen, wo Gott hockt, sagt das Hirn: «I wot a Frou!» Auf Schweizerdeutsch! Zunächst fragt sich Harvey, ob es Gott sei, der da spreche. Aber das konnte ja nicht sein, schliesslich ist Gott kein Schweizer.

Es ist eine faszinierende Geschichte, die Franzobel erzählt. Das Leben von Einstein und Harvey, von zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und doch erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Physik, Medizin und Religion, Zeitgeschichte und Politik, Neurologie und Psychiatrie mischen sich zu einem Road-Roman, so grotesk, dass er einem T. Coraghessan Boyle oder John Irving Ehre antun würde, und gleichzeitig ist der Text sprachlich im Kleinen immer wieder von zarter Poesie, wie man sie bei Dylan oder Kerouac findet. Grossartig.

Franzobel: Einsteins Hirn. Roman. Paul Zsolnay Verlag, 544 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-552-07334-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783552073340

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 16. Februar 2022, Matthias Zehnder

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