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Eine unwahrscheinliche Begegnung

Publiziert am 27. September 2022 von Matthias Zehnder

Zwei Menschen begegnen sich in einem Zug. Sie trägt ein weisses Kleid und liest ein Buch. Er hat eingefallene Wangen und ist nicht rasiert. Irgendwo hat er sie schon einmal gesehen. Nur wo? Sie ist Absolventin der École Nationale d’Administration, der französischen Kaderschmiede der Verwaltung. Er ist Sans-Papier, auf der Flucht, unterwegs zu einem Treffen mit einem Schleuser. Verstohlen schauen sie sich im Zug an. In diesem Blick der Augen, in diesem Augenblick, ist alles möglich. Wäre er nicht ein Sans-Papier und sie nicht im Ministerium zuständig für Migranten. Doch dann fährt der Zug im Bahnhof ein und alles wird anders. Die französische Autorin Éliette Abécassis erzählt in sparsamen Worten die Geschichte dieser unwahrscheinlichen Begegnung, abwechselnd aus ihrer und aus seiner Perspektive. Obwohl äusserlich wenig passiert, ist es eine packende Geschichte, weil alles möglich ist.

 

Kurt Tucholsky hat 1930 das Gedicht «Augen der Grossstadt» geschrieben. Es ist eines meiner Lieblingsgedichte, vielleicht kennen Sie es auch? Es beginnt so:

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück…

vorbei, verweht, nie wieder.

Ich denke immer wieder an dieses Gedicht, wenn ich auf dem Gehsteig durch eine Menschenmenge gehe, und fremden Menschen in die Augen sehe: Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider – Was war das? vielleicht dein Lebensglück… vorbei, verweht, nie wieder.

So stelle ich mir die Begegnung im Zug vor, die Éliette Abécassis schildert. Ein Mann und eine Frau sitzen sich schräg gegenüber. Ihre Augen begegnen sich. Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider. Er ist Sans Papier, sie arbeitet im Ministerium. Er sitzt ohne Ticket und Platzreservation in der ersten Klasse und ist offensichtlich fehl am Platz. Sie gehört hierhin, auch wenn sich ihr weisses Kleid scharf vom Grau der Anzüge um sie herum abhebt. Es ist fürwahr eine unwahrscheinliche Begegnung.

Schon im Zug kriegt er Probleme mit dem Schaffner. Er weiss, dass ihn in der Hauptstadt die Polizei erwarten wird. Dass sie ihn verhaftet wird. Dass er deswegen den Termin mit seinem Schleuser verpassen wird. Dass sie ihn wohl ausschaffen werden. Als der Zug verlangsamt, steht er auf. Sie verlässt den Zug ebenfalls. Sie müht sich mit einem schweren Koffer ab. Er tritt dazu und hilft ihr mit dem Koffer. Auf dem Bahnsteig dreht sie sich um und will gehen. Da sieht sie am Ende des Perrons die wartenden Polizisten und wendet sich um. Sie wendet sich an ihn: Er soll ihren Arm nehmen und ihren Koffer tragen, als würden sie zusammengehören. Denn die Polizei sucht nach einem einzelnen Mann. 

«Als sie nun ihren Schritt beschleunigte, begriff er, dass sie froh war, endlich anzukommen, froh, nach Hause zu gehen. Er fragte sich, wie es wohl bei ihr aussah. War alles aufgeräumt oder was es unordentlich? Geräumig oder beengt? Hatte sie mehrere Zimmer oder nur ein einziges? Si hatte nur einen kleinen Koffer. Reiste mit wenig Gepäck. Vermutlich war ihre Wohnung eher einfach eingerichtet, ohne viele Dinge. Sie hatte es offenbar eilig, nach Hause zu kommen, und trotzdem half sie ihm bereitwillig, ihm, dem Unbekannten, der kein Dach über dem Kopf hatte. Dem Nomaden, der auf der Durchreise war, dem Migranten, wie es bei ihnen hiess.

Sie lief an seiner Seite, Weiter voran. Warf einen Blick nach rechts und links. Vor ihnen die Polizei. Hinter ihnen die endlosen Geleise, sie hielt ihn fest am Arm. Es war beruhigend zu denken, dass er nicht verrückt war, dass er sie nur brauchte, um über den Bahnsteig zu gelangen. Darum hatte er sie beim Aussteigen angesprochen. Weder um sie zu bedrohen noch um sie zu verführen. Sie hatte zu Unrecht Panik gehabt. Manchmal war sie zu empfindlich, sie musste stärker sein, verantwortungsbewusster, ansonsten würde sie es niemals schaffen wegzugehen.» (S. 44f.)

Beide stellen Vermutungen darüber an, was der andere denkt und will und sie missverstehen sich dabei natürlich, wie wir alle uns missverstehen. Es bleibt eine unwahrscheinliche Begegnung. Doch in dem Moment auf dem Bahnsteig haben die beiden fremden Augen plötzlich das Potenzial zum Lebensglück. 

Éliette Abécassis schildert die Begegnung zurückhaltend, präzis, in einer fast schon lakonischen Sprache. Natürlich geht es dabei auch um Migration und Flucht und die Art und Weise wie Frankreich (oder allgemeiner: wie wir alle in Europa) damit umgehen. Es geht aber immer auch um die unwahrscheinliche Begegnung eines Mannes und einer Frau, die Braue, Pupillen, die Lider – vorbei, verweht, nie wieder. Nach der Lektüre dieses Buches werden Sie nie mehr einfach so Zug fahren können. 

Éliette Abécassis: Eine unwahrscheinliche Begegnung. Aus dem Französischen übersetzt von Kirsten Gleinig. Arche Verlag, 128 Seiten, 27.90 Franken; ISBN 978-3-7160-2814-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783716028148

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Basel, 27. September 2022, Matthias Zehnder

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