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Eine Liebe in Pjöngjang
Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche geht es nach Nordkorea. Ein Land, das so verschlossen ist, dass weder Sie noch ich wirklich etwas über die Menschen und ihr Leben wissen. Andreas Stichmann war da. Er erzählt in seinem Roman «Eine Liebe in Pjöngjang» eine Geschichte über das Land und seine Menschen, die uns klar macht, dass das Geheimnis noch viel grösser ist als wir meinen. Die Hauptfigur, die 50-jährige Claudia Aebischer, verliebt sich in eine nordkoreanische Germanistin. Was auf den ersten Blick nach einer schlüpfrigen Phantasie tönt, erweist sich als subtiles Spiel mit vielen Schleiern. Gewiss bleibt am Ende nur, dass da Schleier sind und wir das Geheimnis des verschlossenen Landes nicht verstehen. Nie. In meinem 115. Buchtipp sage ich Ihnen, warum sich diese literarische Reise nach Nordkorea lohnt.
Die Eckdaten der Geschichte sind schnell erzählt: Claudia Aebischer ist Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken. Zusammen mit einer Delegation von zwei Dutzend Menschen aus der Berliner Kultur- und Medienszene reist sie zur Eröffnung einer deutschen Bibliothek nach Pjöngjang, der Hauptstadt von Nordkorea. Als einzige der Gruppe ist Aebischer bereits im Land gewesen. Die Delegation fährt per Zug über die Grenze zwischen China und Nordkorea. Auf der anderen Seite der Grenze ist es plötzlich stockdunkel. Kein Licht ist mehr zu sehen. Alle Mobiltelefone sind jetzt ohne Netz und werden es für die Dauer des Aufenthalts auch bleiben. Als einzige der Gruppe kennt Claudia Aebischer dieses Gefühl, plötzlich abgeschnitten zu sein von der Welt. Sie verteilt Bier in der Gruppe und beruhigt.
«Es war viel Ambition an Bord, wenn man Claudia fragte, die junge Variante. Menschen, die in Wirklichkeit noch keinen Schimmer hatten, wohin genau sie so dringend streben. Aber, stellte sie erschrocken fest, das waren grimmige Oma-Gedanken. So dachte sie sonst eigentlich nicht.» (S. 6f.)
Claudia ist sich bewusst, dass sie mit ihrer Delegation nicht das wahre Nordkorea sehen wird, sondern ein Theaterstück, das für sie aufgeführt wird. Ein Theaterstück, in dem Menschen glückliche Nordkoreaner spielen, vorgeführt von speziell ausgewählten Menschen. Eine dieser Auserwählten ist Sunmi. Die junge Frau ist Germanistin, sie hat eine Doktorarbeit geschrieben über die deutsche Romantik. Sie wird Claudia Aebischer als Dolmetscherin und Fachbegleiterin zugeteilt. In Wahrheit arbeitet sie für den Geheimdienst der Demokratischen Volksrepublik Korea. Sunmi erhält den Auftrag, Vertrauen und Nähe zu der deutschen Frau aufzubauen. Sunmi erhält dafür schöne Kleider zur Verfügung gestellt und sogar ein Mobiltelefon. «Umschmeichelnder Begleitservice» heisst diese Art von Auftrag. Es ist nicht das erste Mal, dass Sunmi das macht. Sie hat anlässlich der Begleitung von Diplomaten schon Kleidung zur Verfügung gestellt bekommen. Aber das waren Männer gewesen. Zum ersten Mal wird Sunmi auf eine Frau angesetzt.
Der Nordkoreanische Geheimdienst hat die Blicke, mit denen Claudia Aebischer Sunmi beobachtete, schon richtig gedeutet. Die nüchterne Deutsche hat sich, für sie selbst überraschend, in die junge Nordkoreanerin verliebt. Geheimdienst, Liebe, Verführung – wenn Sie jetzt eine schlüpfrige Geschichte zwischen den beiden Frauen erwarten, liegen sie total falsch. Es kommt zwischen den beiden Frauen nur zu Blicken und einigen, wenigen Worten. Die Liebe spielt sich nur im Kopf von Claudia Aebischer ab und ist auch da nicht zweideutig. Andreas Stichmann erzählt die Liebesgeschichte mit den Worten der Romantik. Wichtig sind die kleinen Gesten, der Mond, der schwarze Wald, die Bäume. Und nie ist dabei klar: Ist das für Sunmi Teil ihres «Umschmeichelnden Begleitservices» oder meint sie das, was sie sagt? Es ist ein Tanz der Schleier, bei dem Claudia Aebischer und wir als Leser nur eines mit Gewissheit sehen: die Schleier.
In dieses Spiel mit der Romantik sind teils groteske Szenen eingestreut. Die Eröffnung der Deutschen Bibliothek mit starren Staatsmännern und hohlen Worten. Die Reise in den Paektusan, einen Berg an der Grenze zwischen China und Nordkorea. Von da stammt angeblich der frühere Diktator Kim Jong-il, aber vielleicht ist das auch nur Propaganda. Und von da stammt auch Sunmi. So erzählt sie es zumindest der Deutschen Frau in der Sauna.
«Ihr Leben sei gewiss nicht in Gefahr. Aber sie würde gern mit Claudia zum Paektusan reisen. Da sie von dort stamme – ihre Stimme wurde noch leiser –, kenne sie einen Fussweg nach China.
Der Kontakt von Lippe zu Ohr brannte und drängte noch mehr als ihre Worte. Sunmi schluckte hörbar. Wieder beugte sie sich vor. Wieder berührte ihre Hand ihren Arm.
Daran habe sie, Claudia, doch selber gedacht, oder täusche sie sich? Sie vertraue Claudia, wenngleich man sich noch gar nicht lange kenne. Sie habe noch nie jemandem so vertraut.
«Du möchtest…?», flüsterte Claudia und sagte statt fliehen: «weg?»
«Nein, halten wir noch einen Moment in der Sauna aus», sagte Sunmi laut.
«Ich bin deiner Meinung», hörte sich Claudia sagen. Sekunden später rumpelte es. Eine Soldatin öffnete die Tür. Man möge heraufkommen, Abendessen.» (S. 74f.)
Es ist ein Spiel im Theaterspiel. Sex spielt dabei keine Rolle. Es ist ein Spiel der Verführung, immer unter der Drohung, vielleicht doch bald verhaftet zu werden von der Nordkoreanischen Armee. Dabei ist bis kurz vor Schluss nicht klar ob Sunmi Claudia persönlich verführen will oder ob sie der Deutschen im Auftrag des Landes den Kopf verdrehen und sie zu Nordkorea verführen soll. Wie in der Romantik versucht Claudia, die Ebene der Konventionen und Regeln zu durchdringen und zu durchschauen. Sie verheddert sich dabei aber nur immer mehr in ihre Gefühle und muss erkennen, dass sie das Theaterstück Nordkorea, das zu ihren Ehren aufgeführt wird, von Anfang an nicht durchschaut hat und nie durchschauen wird. Das Theater nicht, das Land nicht und die Menschen schon gar nicht.
Andreas Stichmann: Eine Liebe in Pjöngjang. Rowohlt, 160 Seiten, 29.90 Franken; ISBN: 978-3-498-00293-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498002930
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Basel, 2. August 2022, Matthias Zehnder
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