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Eine Frage der Chemie

Publiziert am 20. April 2022 von Matthias Zehnder

Den amerikanischen Autor John Irving kennen Sie bestimmt. Er hat wunderbar ausufernde, versponnene Romane geschrieben. Seine Figuren, etwa Garp, Owen Meany oder Homer Wells, bleiben einem für alle Zeiten im Gedächtnis. So eine Romanfigur von Irvingscher Qualität hat jetzt die kalifornische Autorin Bonnie Garmus geschaffen und das gleich mit ihrem ersten Roman «Eine Frage der Chemie». Mit einem kleinen, aber gewichtigen Unterschied zu Irving: Ihre Figur ist eine Frau. Sie heisst Elisabeth Zott und sie ist Chemikerin. Eine brillante zumal. Doch der Roman spielt Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre und zu dieser Zeit waren Frauen in der chemischen Forschung allenfalls als Sekretärinnen gern gesehen. Obwohl Elisabeth Zott ihre Professoren locker in die Tasche ihres Laborkittels stecken könnte, wird ihr immer wieder deutlich gesagt, dass Frauen einfach zu wenig intelligent seien, um chemische Forschung zu betreiben. Bis sie in einem privaten Forschungslabor auf Calvin Evans trifft. Den Star des Labors, schon mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Zwischen den beiden Chemikern funkt es ganz gewaltig. Auf allen Ebenen. Doch wie bei Irving nimmt die Geschichte die schlimmstmögliche Wendung. Wenigstens zunächst. In meinem 100. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie dieses Buch unbedingt lesen müssen – und warum es ein würdiger 100. Buchtipp ist.

 

Vor zwei Jahren habe ich damit begonnen, Ihnen jede Woche einen Roman zu empfehlen. Ein Buch, das «ebenso intelligent wie unterhaltend ist». Mir geht es dabei vor allem um eins: um gute Geschichten. Um Bücher, die man nicht mehr aus der Hand legen mag und deren Figuren man nicht mehr vergessen kann. Um Geschichten, die einen beim Lesen bereichern und begeistern – und die Welt um einen herum vergessen lassen. In den letzten zwei Jahren habe ich Ihnen 99 solcher Geschichten empfohlen. Eine Zusammenstellung aller Tipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

Das hundertste Buch, das ich Ihnen empfehle, erfüllt alle diese Bedingungen perfekt. Geschrieben hat es Bonnie Garmus, eine kalifornische Autorin, die zur Zeit in London lebt. Es ist ihr erstes Buch und es ist eine Wucht. Das liegt an der Hauptfigur des Buchs, die von Irvingscher Qualität ist: Elisabeth Zott ist hoch intelligent, sie ist eine brillante Chemikerin, sie ist eigenwillig und sie ist stark. Sie hat nur einen schwerwiegenden Nachteil: Elisabeth Zott ist eine Frau. Und Frauen haben es in den 50er Jahren in den Naturwissenschaften schwer. Auch ihr Doktorvater findet, dass Frauen hinter den Herd gehören. Oder ins Bett. Am besten mit ihm. Als Elisabeth Zott das anders sieht und sich dagegen wehrt, von ihm vergewaltigt zu werden, entlässt er sie und macht sie mundtot. Die Polizei ist auch keine Hilfe: In den 50er Jahren ist an einer Vergewaltigung die Frau schuld. Schliesslich hat eine Frau spät abends allein in einem Labor nichts zu suchen, auch wenn sie an ihrer Promotion arbeitet.

Elisabeth Zott ist Wissenschaftlerin. Sie ist immer rational. Aber sie lebt in einer Welt irrationaler Vorurteile und Regeln. Dazu gehört, dass Naturwissenschaften nichts sind für eine Frau. Als sie sich verliebt, ausgerechnet in Calvin Evans, den Star des Chemie-Departements am Forschungsinstitut, und er sich in sie, zerreissen sich alle Mitarbeiter die Mäuler über die Beziehung. Noch schlimmer wird es, als sich herausstellt, dass Elisabeth Zott nicht etwa aufhören und zu Hause ihren Mann bekochen will, nein, sie will weiterarbeiten als Wissenschaftlerin. Die beiden wollen nicht einmal heiraten. 

Doch dann verunfallt ihr Freund und stirbt. Und es stellt sich heraus, dass sie schwanger ist, auch wenn sie auf keinen Fall ein Kind haben wollte. Obwohl sie eine brillante Wissenschaftlerin ist, wird sie sofort entlassen. Sie lässt sich aber nicht beirren, baut ihre Küche zu einem Labor um und forscht weiter. Durch einige verquickte Zufälle begegnet sie einem Fernsehproduzenten und hält ihm einen Vortrag über gesundes Essen. Er bietet ihr einen Job als Fernsehköchin an. Weil sie das Geld braucht, willigt sei ein. Aber statt sich darauf zu beschränken, ihr hübsches Gesicht lächelnd in die Kamera zu halten und die Texttafeln abzulesen, nimmt sie den Job ernst und beginnt, beim Kochen Chemie zu unterrichten. Denn Kochen ist, wie Chemie, die Lehre von der Verwandlung der Substanzen. Ihre Chemie-Koch-Lektionen würzt sie mit ihren Ansichten über die Gesellschaft und die Rolle der Frau, über Rassismus und Sexsismus. Sie ist dabei nie politisch, sondern immer nüchtern wissenschaftlich – was das Ganze natürlich noch schlimmer macht. Ihre kleine Koch-Show wird zum nationalen Grosserfolg, weil sie nicht nur von der Verwandlung von Zutaten handelt, sondern auch von der Verwandlung von Menschen. Von Frauen vor allem. «Ladies», fordert sie ein übers andere Mal ihr Publikum auf, «nehmt Euer Leben in Eure eigenen Hände.» 

Trotz des grossen Erfolgs macht sich Elisabeth Zott damit viele Feinde. Das grösste Problem: Sie spielt bei den üblichen Spielen nicht mit und sie will niemandem etwas vorspielen.

«Elisabeth legte den Kopf schief. «Vorspielen?»
«Du weisst, was ich meine», sagte Harriet. «Du bist intelligent. Das könnte Mr. Pine oder diesen Lebensmal abschrecken. Du weisst doch, wie Männer sind.»
Elisabeth dachte darüber nach. Nein, sie wusste nicht, wie Männer waren. Abgesehen von Calvin, ihren toten Bruder John, Dr. Mason und vielleicht Walter Pine schien sie bei Männern immer nur das Schlimmste zu wecken. Entweder wollten sie sie kontrollieren, sie berühren, sie dominieren, sie mundtot machen, sie korrigieren oder ihr vorschreiben, was sie zu tun hatte. Sie verstand nicht, warum sie sie nicht einfach als mit Menschen behandeln konnten, als Kollegin, als Freundin, als Gleichgestellte oder auch nur als Fremde auf der Strasse, als jemanden, dem man automatisch respektvoll begegnet, bis man herausfindet, dass er Leichen im Garten vergraben hat.
Harriet war ihre einzige echte Freundin, und sie waren meistens einer Meinung, aber nicht in diesem Punkt. Laut Harriet waren Männer und Frauen himmelweit voneinander entfernt. Jeder Mann wollte verhätschelt werden, hatte ein schwaches Ego und konnte keine Frau anerkennen, die intelligenter oder kompetenter war. «Harriet, das ist lächerlich», hatte Elisabeth widersprochen. «Männer und Frauen sind gleichermassen Menschen. Und als Menschen sind wir Produkte unserer Erziehung, Opfer unseres mangelhaften Bildungssystems und Bestimme unseres Verhaltens. Kurz gesagt, Frauen Männern unterzuordnen und Männer Frauen überzuordnen ist nicht biologisch: Es ist kulturell. Und das alles fängt mit zwei Wörtern an: rosa und blau. Ab da geht alles unaufhaltsam den Bach runter.» (S. 284 f.)

Wie bei John Irving ist das Buch voller schrulliger Figuren. Neben Elisabeth Zott zum Beispiel ihr Freund und Liebhaber, Calvin Evans. Er ist nicht nur ein hervorragender Wissenschaftler, sondern auch ein begeisterter Ruderer. Er nimmt Elisabeth sogar mit zum Rudern – was für ein Skandal. Das gemeinsame Kind, das erst auf die Welt kommt, als Calvin schon tot ist, heisst Madeline– kurz: Mad. Sie ist intelligent, liest viel und das führt natürlich zu Konflikten in der Schule. Der Klügste im Haus ist aber der Hund in der Familie. Er heisst Halbsieben, weil er Elisabeth um 18’30 zugelaufen ist. Er lernt hunderte Wörter und hat alle Pfoten voll damit zu tun, die kleine Familie zu schützen. 

«Eine Frage der Chemie» ist eine Geschichte über das Ausloten der eigenen Fähigkeiten und das Verfolgen des eigenen Wegs. Es ist ein spannender Roman über Frauen in den 50er und 60er Jahren  – und hat uns trotzdem, oder gerade deswegen heute sehr viel zu sagen. Und es ist vor allem ein Buch, das einen nicht mehr loslässt, weil einem die Figuren schnell ans Herz wachsen. Kurz: Es ist ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Übersetzt von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Piper Verlag, 464 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-492-07109-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492071093

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Alle 100 Buchtipps auf einen Blick gibt es hier:

Alle meine Buchtipps – die Übersicht

Basel, 20. April 2022, Matthias Zehnder

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