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Ein tiefer Blick in die Seele

Publiziert am 2. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Es gibt Krimis, da wird einem richtig kalt ums Herz beim Lesen. Es wird einem kalt, obwohl das Herz dabei rast. Seltsame Sache eigentlich. Ich denke etwa an die Bücher von Henning Mankell oder Stieg Larsson und die Abgründe, die sie auftun. Dann gibt es Krimis, die einen zum Denken bringen, bis es weh tut. Die historischen Krimis von Volker Kutscher zum Beispiel über aufkommende Zeit des Nationalsozialismus. Und dann gibt es Krimis, die sind wie ein Teller Pasta mit Ragù und Reibkäse nach einem anstrengenden Tag. Es sind Bücher, die Bauch und Herz wärmen. Bücher wie die Krimis von Andrea Camilleri rund um Commissario Montalbano. Seit 25 Folgen ermittelt Montalbano in der fiktiven Kleinstadt Vigàta im Südwesten von Sizilien. Er liebt gutes Essen, gute Bücher und das Meer, reagiert launisch auf das Wetter und allergisch auf Bürokraten, hält seine Verlobte Livia Burlando auf Distanz in Genua und geniesst die Pasta und die Calamari, die ihm Haushälterin Adelina zubereitet. Wie sein Autor kritisiert Montalbano Italien – und liebt Sizilien. Andrea Camilleri ist 2019 gestorben. Noch sind aber nicht alle seine Montalbano-Romane auf Deutsch übersetzt, deshalb kommen wir immer noch in den Genuss von Neuerscheinungen. In meinem 189. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, ob auch der, wenn ich das richtig sehe, drittletzte Roman von Andrea Camilleri ein kunstvoller Teller Pasta mit Ragù und Reibkäse ist.

In Vigàta tauchen zwei Tote auf. Die erste Leiche findet Montalbanos Vize Mimì Augello, während einer abenteuerlichen Flucht aus der Wohnung seiner Geliebten. Weil überraschend deren Ehemann heimkommt, muss Mimì über das Balkongeländer klettern und sich auf den Balkon der Wohnung unter der seiner Geliebten abseilen. Da stellt er fest, dass die Balkontüre offen steht. Er schleicht sich in die Wohnung – und trifft auf eine Leiche. Das Problem: Er kann die Leiche nicht melden, weil er offiziell ja nicht hier ist. Also klingelt er mitten in der Nacht Sturm bei Montalbano und der muss ihn erst mal beruhigen.

Die zweite Leiche wird ganz klassisch in einer Wohnung gefunden. Das seltsame daran ist nur, dass sie in präzise derselben Haltung auf dem Bett liegt wie die Leiche, die Mimì im Haus seiner Geliebten gefunden hat. Bei der zweiten Leiche handelt es sich um den Geldverleiher Carmelo Catalanotti, der eine Theatergruppe finanzierte und da auch als Regisseur arbeitete. Dieser Fall wird Montalbano beschäftigen. Denn am Tatort erscheint auch eine neue Kriminaltechnikerin, Antonia. Sie schlägt Montalbano in ihren Bann, weil sie selbstbewusst und geistreich ist. Vielleicht nicht nur deshalb. Und Livia ist bekanntlich weit weg. Das nutzt Montalbano aus. Nein, nicht bloss so, wie Sie jetzt meinen:

«Beim Anblick der herrlich knusprig aussehenden frittierten Garnelen und Calamari, die Adelina für ihn zubereitet hatte, zögerte er kurz.
Sein Auge fiel auf einen am Kühlschrank klebenden Zettel.
Erst eine Woche vorher, als Livia zuletzt zu Besuch gewesen war, hatte sie ihm diesen Zettel hinterlassen, der nur wenige Worte enthielt. Für ihn jedoch klangen sie wie ein Todesurteil.
Sie hatte geschrieben:
Vergiss nicht (das Folgende war mit rotem Filzstift geschrieben), dein Stoffwechsel hat sich grundlegend verändert (grundlegend war zweimal unterstrichen).
Für den täglichen Bedarf reichen wenige Kalorien.
VERBOTEN:
Kohlehydrate (Brot, Nudeln …)
Süssspeisen (vor allem Cannoli und Cassata)
Frittiertes (vor allem gefüllte Sardinen, Glasfischbällchen und die kleinen Tintenfische, die du so gern isst)
Alkohol (höchstens 1 Glas Rotwein pro Tag)
Es folgte die Zeichnung eines Totenkopfs und darunter, auch mit rotem Filzstift:
AUF WHISKY VERZICHTEN
Adelina hatte von ihm wissen wollen, was es mit dem Zettel auf sich hatte. Er hatte nur mit den Achseln gezuckt.
Doch der Duft, der aus der Pfanne aufstieg, war einfach unwiderstehlich.
Montalbano deckte den Tisch auf der Veranda und liess sich die frittierten Meeresfrüchte direkt aus der Pfanne schmecken.
Nachdem er seinen Festschmaus beendet hatte, füllte er das Weinglas zum zweiten Mal und trank es in zwei Zügen leer.
Da klingelte das Telefon. Livia war dran.
‹Ich habe gerade zu Abend gegessen. Und du?›
‹Gekochte Garnelen mit einer Spur Öl und etwas Zitrone. Vollkornbrot und ein halbes Glas Wein. Wie du siehst, halte ich mich an deine Regeln.›» (S. 62f.)

Wie immer steckt der Text von Andrea Camilleri voller literarischer Anspielungen. Wobei er uns diesmal recht deutlich sagt, um was es geht. Das Theaterstück, an dem der ermordete Regisseur gerade arbeitete, war «Gefährliche Kurve» des britischen Autors J. B. Priestley. Ein Stück, in dem jeder und jede ein Geheimnis mit sich trägt. Vielleicht kennen Sie ein anderes seiner Theaterstücke «An Inspector Calls». Ein Mitglied der Theatergruppe erklärt Montalbano, wer J. B. Priestley ist:

«‹Ein englischer Autor, der für seine krimiähnlichen Romane und Theaterstücke bekannt ist.›
‹Was heisst krimiähnlich?›
‹Sie präsentieren sich vordergründig als Kriminalfälle, aber eigentlich sind es tiefschürfende Erforschungen der Seele des modernen Menschen.›
Montalbano kam der Gedanke, dass auch ein guter Polizist die Fähigkeit besitzen musste, die Seele des Menschen zu erforschen.» (S. 127)

Andrea Camilleri sagt uns hier ganz präzise, um was es ihm in seinen Krimis geht: vordergründig sind es «Kriminalfälle, aber eigentlich sind es tiefschürfende Erforschungen der Seele des modernen Menschen». Es stellt sich heraus, dass es auch dem ermordeten Regisseur um die Seele ging. Um die Seele seiner Schauspieler. Er wollte, dass jeder Schauspieler auf etwas zutiefst Persönliches zugreift, um sich in seine Rolle hineinzufühlen. Ein Trauma, ein bestimmter Augenblick im Leben, eine gescheiterte Beziehung, ein tiefgründiges intimes Erlebnis, auf das er zurückgreifen konnte.

Montalbano fragt nach, wie das funktioniert:

«‹Damit ich das richtig verstehe: Wenn in der Komödie eine Witwe auftrat, wollte er dann eine echte Witwe?›
‹Nein, Commissario. So doktrinär war er nicht. Aber er bohrte in der Psyche eines Schauspielers nach, um beispielsweise einen Verlust aufzuspüren, wie ihn eine Witwenschaft mit sich bringt, und darin war er sehr geschickt. Er schaffte es, die Abwehrmechanismen seines Gegenübers auszuschalten, sodass etwas zum Vorschein kam, ein Trauerfall, eine Scheidung, vielleicht auch nur ein Umzug, jedenfalls eine traumatische Erfahrung, die, wie in diesem Beispiel, mit einem Verlust zusammenhing, mit einem Manko.›» (S. 75)

Der Regisseur war also etwas zwischen einem Psychoanalytiker und einem Beichtvater. Das ist der Schlüssel zur Geschichte und darauf bezieht sich auch der Titel des Romans: «Ein tiefer Blick in die Seele». Das, was es da zu finden und zu sehen gibt, das hat der ermordete Regisseur als Potenzial genutzt. Die Frage ist, was Montalbano findet, wenn er in seine eigene Seele blickt. Und wir mit ihm.

Natürlich ist es Antonia, die Montalbano das Herz aufreisst und uns in seine Seele blicken lässt. Sie schlägt ihn nämlich mit seinen eigenen Waffen, weil sie geistreich, belesen und vor allem unabhängig ist. Sie zieht damit Montalbano in ihren Bann – und am Ende verschlägt es sogar dem Commissario die Sprache.

Andrea Camilleri: Ein tiefer Blick in die Seele. Kriminalroman, übersetzt von Rita Seuß und Walter Kögler. Bastei Lübbe, 304 Seiten, 35.90 Franken; ISBN 978-3-7857-2856-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783785728567

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 2. Februar 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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