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Ein Präsident verschwindet

Publiziert am 25. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Am 20. Juli 1944 versuchte eine Gruppe von Widerstandskämpfern Diktator Adolf Hitler in die Luft zu sprengen. Zum Kreis der Kämpfer gehörte Otto John. Nur knapp entkam er danach der Verfolgung durch die Nazis. Nach dem Krieg wurde dieser Otto John zum ersten Präsidenten des neu gegründeten Bundesamts für Verfassungsschutz gewählt. Auf den Tag genau zehn Jahre nach dem Attentat, am 20. Juli 1954, lief dieser Otto John zur anderen Seite über: Er überquerte in Berlin die Ostgrenze. An einer Pressekonferenz nahm er gegen Bundeskanzler Adenauer Stellung und beklagte den steigenden Einfluss früherer Nationalsozialisten in der Bundesrepublik. Bis heute ist nicht klar, ob Otto John entführt wurde, ob er zur Stellungnahme gezwungen wurde, oder ob er freiwillig in die DDR wechselte. Ralf Langroth hat einen historisch akkuraten Thriller über das Verschwinden von Otto John geschrieben: In seinem Buch ermittelt Kriminalhauptkommissar Philipp Gerber und gerät dabei selbst in die Fänge des KGB. Ein spannender Thriller, dessen Setting von erschreckender Aktualität ist.

 

Noch vor ein paar Wochen war der Eiserne Vorhang, der sich durch dieses Buch zieht, weit weg: 1989 ist die Mauer gefallen, seither haben sich Ost und West angenähert, die Machenschaften des KGB sind längst vergangen. Heute ist das anders: Der KGB hat sich mit Macht zurückgemeldet. Der Osten, zumindest Russland, ist wieder hinter einem Eisernen Vorhang verschwunden. Wie im Buch 1954 ist die Welt geteilt in eine amerikanische und eine russische Einflusssphäre und wieder stehen sich Ost und West unversöhnlich und misstrauisch gegenüber. 

1954 steckt die Bundesrepublik Deutschland noch in ihren Anfängen. Das Land wird von Konrad Adenauer regiert, dem ersten Bundeskanzler der BRD. Philipp Gerber ist sein Mann: Der Kanzler ruft den erfahrenen Kriminalpolizisten. Er soll herausfinden, was es mit dem Verschwinden von Otto John auf sich hat. Gerber ist nicht nur Adenauers Mann, weil er bis vor kurzem für die amerikanische CIC gearbeitet hat, also für die amerikanische Spionageabwehr. Gerber wird auch mit dem Fall betraut, weil offenbar Gerbers Freundin Eva Herden ins Verschwinden von Otto John involviert ist. Herden ist Journalistin und schreibt für das kommunistische Nachrichtenmagazin «Brennpunkt Bonn» – das kann ja nur eine Aussenstelle der Kommis und damit des KGB sein. Oder? Jedenfalls ist auch Herden in Ostberlin verschwunden und da an der Seite von Otto John gesichtet worden. Hat sie das Überlaufen von Otto John organisiert? Oder hat sie ihn in eine Falle gelockt, ihn mit K.O.-Tropfen betäubt und dem KGB übergeben? Möglich wärs. Der Skandal jedenfalls ist perfekt.

Denn Otto John ist nicht irgendwer. Er ist Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und damit Chef des zivilen, für das Inland zuständigen Nachrichtendienstes des Bundes. Das ist jenes Amt, das heute die AfD als Verdachtsfall einstuft und deshalb mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet. Das Amt ist so etwas wie die Rückversicherung der Demokratie in Deutschland. Wenn der Präsident dieses Amtes plötzlich in der DDR auftaucht und Bundeskanzler Adenauer anklagt, er setze beim Aufbau der BRD zu viele Nazis ein, dann ist das mehr als nur brisant. Es ist bis heute einer der grössten politischen Skandale Deutschlands. 

Wie im Buch kehrte Otto John in der Realität Ende 1955 überraschend zurück in die BRD. Er behauptete, er sei entführt und zu seinen Aussagen gezwungen worden. Trotzdem wurde er wegen Landesverrats zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Es ist und bleibt eine undurchsichtige Geschichte. Was wir wissen: Hubert Schrübbers, der Nachfolger von Otto John als Präsident des Verfassungsschutzes, musste 1972 zurücktreten, nachdem seine Tätigkeit in der NS-Justiz während der Zeit des Nationalsozialismus bekannt worden war. Unter Schrübbers sollen übrigens auffällig viele hohe Positionen im Bundesamt mit ehemaligen SS- und SD-Angehörigen besetzt worden sein. Otto John hatte mit seinen Vorwürfen gegen Adenauer also wohl recht.

Im Roman erklärt Bundeskanzler Adenauer gegenüber Hauptkommissar Gerber, wie das ist mit diesen Nazis: «Wissen Se, Jerber, das Land da draussen liegt noch zu einigen Teilen in kümmern. Die Schuld daran tragen die Nazis. Warum sollen se denn nicht dabei helfen, dass alles wieder aufzubauen? Ist doch wohl ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit.»
«Viele sehen das anders, Herr Bundeskanzler. Diese Leute verstehen nicht, warum sie ausgerechnet auf die Mitarbeit der alten Nazis bauen.»
«Na, weil ich keine besseren Leute habe.» Adenauer breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme aus. Jetzt stellen Se sich mal vor, Se sind dringend auf Wasser anjewiesen, haben aber kein frisches. Würden Se dann das schmutzije, was Se haben, wegschütten?» (S. 347f.)

Ralf Langroth nutzt im Buch die bekannten Fakten und erfindet dazu eine spannende Geschichte, was hinter dem Überlaufen von Otto John gesteckt haben könnte. Dabei erweckt er die 50er Jahre bis ins Detail zum Leben. Die Polizisten rauchen Camel, Roth Händle und Papirossa. Sie fahren Opel Kapitän und schlagen den Kragen ihres Trenchcoats gegen den Regen hoch. In Berlin liegen 1954 noch viele Häuser in Trümmern und die Menschen ebenso. Langroth gelingt es, das beklemmende Klima der 50er Jahre erlebbar zu machen. Da sind die Amerikaner, die in Deutschland ihre Strippen zu ziehen versuchen. Ehemalige Nazis, die schon wieder an den Schaltstellen der Macht sitzen. Überzeugte Kommunisten, die gemeinsame Sache mit Ostdeutschland machen. Der KGB, der unbarmherzig die Interessen der Sowjetunion verfolgt. Und zwischen all den grossen Mächten Philipp Gerber und Eva Herden, die das Knäuel zu entwirren und wieder zu ihrer Beziehung zu finden versuchen. Spannend – und erschreckend aktuell.

Ralf Langroth: Ein Präsident verschwindet. Historischer Thriller. Rowohlt, 384 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-499-00477-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499004773

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Basel, 25. Mai 2022, Matthias Zehnder

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