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Ein heisses Jahr

Publiziert am 25. Januar 2024 von Matthias Zehnder

Ich kenne kaum einen Schriftsteller, der Gefühle so stark zu Papier bringen kann, wie Phillippe Djian. Und zwar ohne dass er sie beschreibt. Er zeigt sie nur, vor allem in den Dialogen. In meiner Jugend haben wir geschwärmt für «37°2 le matin», die meisten allerdings für die Verfilmung des Romans von Jean-Jacques Beineix, «Betty Blue», mit der absolut umwerfenden Béatrice Dalle. Als Betty hat sie uns um den Schlaf gebracht. Schon damals hat mich Zorg fasziniert, die männliche Hauptfigur der Geschichte: Er versucht verzweifelt, für sich und Betty eine Welt zu schaffen, in der sie leben und sich lieben können – und er scheitert daran. Sie stehen im Kern des Werks von Phillippe Djian: Männer, die an Missverständnissen und vor allem an ihren Gefühlen scheitern, der Welt scheinbar abgeklärt begegnen, sich aber gerade an ihren abgrundtiefen Gefühlen immer wieder aufrichten und es immer wieder von neuem versuchen. Auch der Held seines neusten Romans ist ein solcher Mann: Greg heisst er. Das Buch spielt im Jahr 2030. Die Welt ist überhitzt, 37,2 Grad am Morgen bezieht sich diesmal nicht auf die Körpertemperatur, sondern auf das Klima. In den Medien wurde der Roman deshalb auch als Klimaroman bezeichnet. Doch ich glaube, das ist falsch: Die Hitzewelle und die Verstrickungen von Greg in eine Chemiefirma, die die Umwelt schädigt, bilden nur den Hintergrund für das moralische Dilemma und die Liebe. Denn Greg verliebt sich in die Klimaschützerin Véra. Wieder steht ein Mann im Zentrum, der sich in einer Zwickmühle wiederfindet. Zwischen der Liebe und seiner Arbeit, verstrickt in familiäre Beziehungen. Zwischen Loyalität und Moral. Zwischen der Liebe und dem Leben. In meinem 188. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, ob Phillippe Djian auch mit 72 die Männer noch versteht.

Im französischen Original heisst der Roman «2030», in dem Jahr spielt die Geschichte. Die Erde ist so heiss wie noch nie, auch nachts kühlt es kaum mehr ab. Greta Thunberg, die nie mit Namen genannt wird, ist mittlerweile 30 Jahre alt. Philippe Djian nennt sie «das Mädchen mit den Zöpfen». Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, dass dieses Mädchen die Schule schwänzte, um die Welt zu retten. «Und kein Denkmal für sie, nicht einmal eine Briefmarke», schreibt Djian. Die 30jährige Greta führt noch immer eine Umweltbewegung an. Zu Beginn des Buchs trifft sie in Frankreich für eine Lesung ein. Lucie, die Nichte von Hauptfigur Greg, will sie unbedingt treffen. Sie will für das Mitteilungsblatt der Schule ein Interview mit ihr machen und Greta fragen, wie sie die letzten zehn Jahre erlebt hat. Lucie bewundert den Idealismus der jungen Frau, doch ihre Bewegung ist gescheitert. Sie hat nichts erreicht, die Erde ist so heiss wie nie zuvor.

Das ist die Ausgangslage der Geschichte. Greg kümmert sich um seine Nichte, seit er bei einem Verkehrsunfall Frau und Sohn verloren hat. Sein Sohn Nicky wäre jetzt so alt wie Lucie. Vielleicht ist es auch umgekehrt: Lucie kümmert sich um ihn. Denn Greg ist einer dieser gestürzten Männer, wie wir sie aus den Büchern von Djian kennen. Am Autounfall war er nicht ganz unschuldig. Lucie ist die Tochter von Sylvia, der Schwester von Greg. Deren Mann Anton ist Gregs Chef und mit ihm befreundet. Antons Firma produziert hochgiftige Pestizide. Gelegentlich muss Greg für Anton Laborergebnisse fälschen. Das ist der Preis der Familie für den gutbezahlten Job, die Wohnung und das Auto. Ein Porsche. Greg ist also das genaue Gegenteil von Greta: Er ist labil, hat keine Moral, sein Porsche ist ihm wichtiger als die Natur, auch nach dem Verkehrsunfall gibt er immer wieder Gas und geht an die Grenze.

«Seine Frau und sein Sohn waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und niemand konnte nachvollziehen, wie er seine Hände noch an ein Lenkrad legen konnte, aber es hatte auch niemand versucht, das zu verstehen, niemand wollte ihn belasten. Wichtig war nur, dass es mit ihm wieder bergauf ging. Es war nicht die Zeit für Erklärungen. Zumindest war er ein guter Fahrer.» (S. 49)

Lucie hat eine ältere Schwester, Aude. Sie ist das Gegenstück zu Greg: Während Greg innerlich verkrüppelt ist, ist sie es äusserlich. Aude ist seit einem Unfall querschnittgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Auch um sie kümmert sich Greg. Aude schreit nachts vor Wut und tagsüber vor Frust und Schmerzen. Sie trägt nach Aussen, was Greg überspielt und in sich vergräbt.

In der Buchhandlung, in der die Veranstaltung mit Greta stattfindet, lernt Greg Véra kennen, die französische Verlegerin von Greta. Eine Umweltschützerin. Seine Antagonistin. Und Greg verliebt sich in sie. Djian schreibt das natürlich nicht. Bei ihm klingt es so:

«Es machte ihm wirklich Freude, sich mit Véra zu unterhalten. Sie musste etwas älter sein als er. Ihr Gesicht strahlte. Sogar wenn sie nichts sagte, fand er sie geistreich.» (S. 46)

Das ist die Kunst von Philippe Djian: Er braucht kaum eine Handvoll Worte, um uns klar zu machen, wie seine Figuren fühlen, ohne diese Gefühle je zu benennen: «Sogar wenn sie nichts sagte, fand er sie geistreich.» In seinen frühen Romanen hat sein Ton an die Schreibweise von Charles Bukowski oder Henry Miller erinnert: Hart, direkt, geniale Dialoge – und voller knisternder, manchmal sehr freizügiger Erotik. In seinen späten Romanen ist Djian zurückhaltender geworden. Geblieben sind äusserst präzise Dialoge und Beobachtungen. Er schafft es, mit wenigen Strichen eine Szene so zu zeichnen, dass man als Leser die zerrissenen Gefühle seiner Protagonisten fast schon schmerzhaft mitempfindet.

Das ist auch in seinem neusten Buch so. Der gescheiterte Greg, der Labordaten fälscht und einen Porsche über die Landstrasse jagt, verliebt sich in eine Umweltschützerin. Es ist, wie Dürrenmatt sagt, die schlimmstmögliche Wendung der Geschichte. Doch Greg ist nicht nur gescheitert. Er hat auch ein grosses Herz. Für Lucie und ihren langsamen Aufbruch in die Welt. Für die querschnittgelähmte Aude und, darauf kommt es am Ende an, auch für sich selbst.

Das gilt auch für Véra. Was für Greg der Porsche ist für sie das Engagement für die Umwelt: Sie gibt Gas, bis sie an die Wand fährt – und ihr Mann sich von ihr scheiden liess:

«Sie hatte gut fünfzig Werke dazu herausgebracht, sie konnte nicht leugnen, dass sie davon besessen war, was auch das unabwendbare Ende ihrer Ehe mit Ralph eingeläutet hatte – eines Morgens waren sie aufgewacht und hatten den Graben zwischen sich gesehen. Sie fühlten sich noch zu jung, zu sehr mit sich beschäftigt, ausserdem war sie schon in ihre Welt abgedriftet, die um jeden Preis gerettet werden musste, was Ralph nicht nachvollziehen konnte. Ralph war zu sehr mit seiner Arbeit beschäftigt, um sich für irgendetwas anderes zu interessieren.» (S. 57)

Ralph und Anton sind die beiden Macker in der Geschichte. Die Männer, denen die Gesellschaft recht gibt, weil sie Erfolg haben. Erfolg auf Kosten anderer.

Die Menschen in den Büchern von Philippe Djian sind auf Kollisionskurs, miteinander und mit sich selbst. Im Zentrum stehen die Gefühle, die Selbsttäuschungen, die Hoffnungen, das Verzagen. Auch wenn das «heisse Jahr» eine wichtige Rolle spielt, ist es kein Klima-Roman. Die Klimakrise bildet das fiebrige Verhalten der Menschen nur ab und spitzt es zu. Wie oft bei Philippe Djian geht es darum, wie Greg zwischen seinen Verpflichtungen, seinem Job und seiner Liebe zu seiner eigenen Moral findet. Das heisst nicht, dies als kleine Warnung, dass es zu einem simplen Happy End kommt à la «und sie lebten glücklich und zufrieden»… Denken Sie an Betty Blue: Zorg erstickt darin Betty mit einem Kissen, weil das der einzige Weg ist, wie er ihr und seiner Liebe treu bleiben und Betty ernst nehmen kann. Auch Greg findet zu seiner Moral zurück. Wie, das müssen Sie selbst herausfinden.

Phillippe Djian: Ein heisses Jahr. Roman, übersetzt von Norma Cassau. Diogenes, 240 Seiten, 32 Franken; ISBN 978-3-257-07249-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072495

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Basel, 25. Januar 2024, Matthias Zehnder

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