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Eigentum

Publiziert am 9. November 2023 von Matthias Zehnder

Den österreichischen Schriftsteller Wolf Haas kennen Sie vielleicht als Autor der Brenner-Krimis: sechs mal hat er Detektiv Simon Brenner auf die Piste geschickt. Jedesmal war es nicht nur ein spannendes, sondern auch sprachlich ein höchst unterhaltsames Leseerlebnis. Jetzt hat Wolf Haas einen Roman vorgelegt, mit dem er seiner Mutter ein Denkmal setzt: «Eigentum» heisst das Buch. Haas erzählt, wie er in den letzten Tagen vor ihrem Tod seine Mutter besucht und sich an ihr Leben erinnert. Das könnte traurig und wehmütig sein, unter den Händen von Wolf Haas ist es ein skurril-unterhaltsames Buch geworden, mit dem er sprachgewaltig seiner Mutter ein Denkmal setzt. Was heisst, seiner Mutter: unser aller Mütter. Im Zentrum steht dabei die Sehnsucht seiner Mutter nach Eigentum. Nach eigenem Grund und Boden. Diese Sehnsucht wird in der Familie zum Fluch, der sich, ganz wörtlich, erst im Tod löst. Das mag jetzt schwer tönen, ist es aber nicht. In meinem 179. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das Buch trotz leiser Wehmut beste Unterhaltung bietet.

Zwei Tage vor ihrem Tod besucht Wolf Haas seine Mutter im Altersheim. Ursprünglich war das Altersheim eine Gebärklinik. Irgendwann beugten sich die Betreiber der Alterspyramide und hatten die Gebärklinik auf Altersheim umgemodelt. Jetzt stirbt die Mutter dort, wo sie ihre Kinder zur Welt gebracht hat. Sie ist fast fünfundneunzig Jahre alt und nicht mehr ganz da. Manchmal macht das, was sie sagt, keinen Sinn mehr. Manchmal schläft sie mitten im Satz ein. Trotzdem, das ist Wolf Haas klar, muss er sie ernst nehmen. So, wie man auch Schwachsinnige und Kinder ernst nehmen muss. Das gilt, natürlich auch für seine sterbende Mutter. «Die alles für einen getan hat huhu», schreibt Haas. Denn natürlich hatte seine Mutter eine schwere Kindheit. Er selbst hatte es dagegen immer gut.

Das hat ihm seine Mutter, wie wohl die meisten Mütter, zeitlebens unter die Nase gerieben. Ihn musste man nicht wegen Not und Elend schon als Säugling auf einen Pflegeplatz geben. Er wurde nicht als zehnjähriger Arbeitssklave endgültig zu einem Bauern ins Nachbardorf geschickt. Er musste nicht eine Stunde durch den Tiefschnee in die Schule waten, im Sommer Kühe hüten und dann noch die Strümpfe der vier Bauernsöhne ausbessern. Nachstricken musste seine Mutter die Strümpfe mit dem feinen weissen Garn, bis alles wieder schön war.

Und genau so muss Wolf Haas jetzt das Leben der Mutter nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis will er fertig sein, und dann ist er es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text soll es werden. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt. Schliesslich bleiben ihm nur zwei Tage bis zum Tod der Mutter. Keine Zeit für Formulierungen. Oder Selbstzensur.

Das Resultat ist dieses Buch. Haas erinnert sich an seine Mutter. Ihre Sprache, das typische Jammern und Schimpfen der Mütter, durchdringt dabei seine Erinnerungen und macht das Buch zum universellen Denkmal für alle Mütter. Wie in allen Familien schwärt in der Vergangenheit eine Wunde. Aufgerissen hat sie der Grossvater der Mutter. Der hat nämlich einen kapitalen Fehler gemacht. Das hat seine Mutter dem kleinen Wolf immer wieder erzählt, damit er diesen Fehler nicht auch einmal begehe und vom ererbten Geistesgift zur Fehlerwiederholung getrieben werde. Die Mutter war geradezu besessen davon.

«Der Vater ihrer Mutter war ein Bauer. Ein kleiner Bauer. Ganz ein kleiner Bauer. Eine Kuh oder zwei oder drei. Mit den vermuteten Kühen meines Urgrossvaters lernte ich zählen. Der hat irgendwo ein Lechn gehabt. Ich rede hier nicht vom Mittelalter, aber im Dialekt heißt das Bauerngut immer noch Lehen, und man sagt Lechn wie Walther von der Vogelweide persönlich. Ganz ein kleines Lechn hat der gehabt, aber der wollte es zu etwas bringen, der war ehrgeizig, der hat so einen Ehrgeiz gehabt, oder war er auch nur so ruhelos, vielleicht hat der auch nur keine Ruhe gehabt, weisst, ruhelos, jetzt hat er sein Lechn verkauft und ein bisschen ein grösseres Lechn gekauft. Das alte Lechn eingetauscht gegen ein besseres Lechn. Aber auf dem neuen ist er auch wieder nicht geblieben. Nach ein paar Jahren auf dem neuen Lechn hat er wieder etwas gehört. Jemand hat ihm erzählt, dass es wo ein grösseres Lechn günstig gibt. Dann hat er sein Lechn wieder hergegeben, damit er das bessere Lechn kaufen kann.» (S. 29f.)

Sprachlich ist es eine Lust, Wolf Haas zuzuhören, wie er den klagenden Singsang seiner Mutter zu Papier bringt und damit dem Singsang aller kleinen Leute ein Denkmal setzt:

«Dann hat er auf dem neuen Lechn Tag und Nacht gerackert und geschuftet und gebuckelt. Nichts wie gesät und gemäht und geheut. Nichts wie sich geplagt und gequält und geschunden. Nichts wie arbeiten arbeiten arbeiten. Jahrelang nur sparen sparen sparen. Dann hat er von wem gehört, vielleicht von einem Durchreisenden hat er das gehört. Es gibt wo ein Lechn, günstig. Da ist einer gestorben, da ist einer abgekugelt, da hat sich einer aufgehängt, da gibt es das Lechn günstig.» (S. 31)

Nichts wie arbeiten arbeiten arbeiten. Jahrelang nur sparen sparen sparen. So ist es, das leben der kleinen Leute. Aber wie in jeder Geschichte kam es auch in der Geschichte des mütterlichen Grossvaters zur Katastrophe. Einmal , als er wieder einen kleinen Hof verkauft hatte, um sich zu verbessern, trat sie ein, diese Katastrophe: «Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin.»

Das ist sie, die schwärende Wunde der Familie, die zum Absturz geführt hat, zum Verlust des Eigentums. Der alte Hof ist schon verkauft, aber bevor der Grossvater den neuen Hof kaufen kann, ist das Geld hin. Wegen der Inflation. Das ganze Geld ist hin. Nichts mehr wert. Kaputt. Seine Mutter hat es sich deshalb in den Kopf gesetzt, Wohneigentum zu erwerben. Denn bei einer Mietwohnung muss man das Leben lang nur zahlen zahlen zahlen. Und am Schluss hat man  gar nichts. Aber eine Eigentumswohnung, die zahlt man ab und dann ist sie Eigentum.

Die Mutter wollte also Eigentum kaufen. Damals kostete der Quadratmeter zehn Schillinge. Ein kleines Haus, das sind etwa tausend Quadratmeter, also brauchte die Mutter zehntausend Schillinge.

«Dann hab ich gearbeitet gearbeitet gearbeitet, die ganze Zeit nichts wie sparen sparen sparen, und wie ich die zehntausend Schilling beisammengehabt hätte, hat der Quadratmeter inzwischen zwanzig Schilling gekostet. Wegen der Inflation. … Dann hab ich halt wieder gespart gespart gespart, gearbeitet gearbeitet gearbeitet. Dann hab ich gerechnet gerechnet gerechnet, addiert, multipliziert, dividiert. Anzahlung, Abzahlung, Zinsen. Und wie ich die zwanzigtausend Schilling beisammengehabt hätte, hat der Quadratmeter inzwischen vierzig Schilling gekostet.» (S. 36f.)

Der Wunsch nach Eigentum wird zum endlosen Wettlauf gegen die Inflation, «arbeiten arbeiten arbeiten» und «sparen sparen sparen» zum sinnlos-repetitiven Lebensmotto der Mutter. Dass es sinnlos ist, ist seit dem Absturz des Grossvaters der Mutter klar: Denn das Geld ist kaputt. Erst als ihr Mann stirbt, erfüllt sich für die Mutter der Traum vom eigenen Grund und Boden auf makabre Art und Weise:  auf dem Friedhof.

«Dann schlurfte und hinkte man mit der schwer befüllten Kanne zum Grab, kam aber kaum von der Stelle, denn auf dem Weg grüsste einen die Nachbarin, wie gehts dir Mariann, ja wie solls mir schon gehen, den ganzen Tag nichts wie giessen giessen giessen bei der Hitz. Und meine Mutter, die ihr Leben lang mit allen Nachbarn im Krieg gewesen war, blühte innerhalb der Friedhofsmauer auf. Als handelte es sich um eine UNO-Friedenszone, lebte sie zu einer grüssenden, ja plaudernden, geselligen Frau auf, und das war, weil jetzt auch sie ein Grundstück hatte. Nicht nur die anderen, auch sie hatte einen eigenen Grund. Und damit nicht genug. Es stand sogar ihr Name drauf, nicht nur der Name ihres verstorbenen Mannes. Der Einfachheit halber hatte der Kreuzmaler unter dem Namen des verstorbenen Vaters (Johann Haas 1928 – 2002) gleich auch den Namen der Witwe als goldenen Cliffhanger hinterlassen: Marianne Haas 1923 – » (S. 46)

Erst der Tod erlöst die Mutter vom Kampf um das Eigentum und hebt den Fluch vom «arbeiten arbeiten arbeiten» und «sparen sparen sparen» auf. Den sie bis da natürlich längst an ihren Sohn weitergegeben hat. Der hat ihr mit seiner jüngsten Arbeit jetzt ein wunderbares Denkmal gesetzt. Oder gestrickt. Es ist nicht nur zum Denkmal für Marianne Haas geworden, sondern zum Denkmal für alle Mütter, die grantig jammernd sich abrackern für ihre Kinder und die Liebe hinter Knuffen und Schimpfen verbergen. Ein Lesegenuss.

Wolf Haas: Eigentum. Roman. Hanser Verlag, 160 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-446-27833-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446278332

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 9. November 2023, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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