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Publiziert am 8. September 2022 von Matthias Zehnder

Nach einem grossen Fest schauen wir alle etwas schuldbewusst zu, wie die Müllmänner die Berge von leeren Flaschen, Dosen und Plastikmüll beseitigen. An manchen Orten in der Stadt arbeiten sich die Müllmänner täglich durch den Dreck, den die Vergnügungsgesellschaft in der Nacht zurückgelassen hat. In diesem Buch geht es um die Müllmänner und -frauen, die den Dreck aus dem Netz entfernen. Kayleigh und ihre Kollegen prüfen Beiträge, Bilder und Kommentare in einem sozialen Netzwerk. Manche Beiträge entfernen sie. Fiktiv daran ist nur der Name des Netzwerks: Im Buch heisst es «Hexa». Die verstörenden Bilder, Videos und Texte sind dagegen real: So geht es tatsächlich zu im so genannt sozialen Raum des Netzes. In ihrem Roman beschreibt Hanna Bervoets, wie die Welt in den Köpfen von Kayleigh und ihre Kollegen aus den Fugen gerät, weil sie jeden Tag den geistigen Müll der Gesellschaft wegputzen. In meinem 120. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, dieses Buch zu lesen.

 

Kayleigh, die sich selber lieber Kay nennt, arbeitet bei Hexa, einem sozialen Netzwerk, wie Facebook eins ist in der Realität. Sie arbeitet in einer Abteilung, die etwas beschönigend von den amerikanischen Tech-Firmen als «Content Moderation» bezeichnet wird. Das bedeutet: Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen sperren Inhalte, die nicht den Richtlinien entsprechen. Sex, Gewalt, Hitlergrüsse, misshandelte Tiere. 

Der Job ist hart. Mindestens 500 Beiträge müssen die Moderatorinnen und Moderatoren pro Tag bearbeiten. Es gibt maximal sieben Minuten Pause, beim Gang aufs Klo läuft die Stoppuhr. Doch die Arbeit ist gut bezahlt und das ist, was für Kayleigh zählt: Sie hat nämlich Schulden. Um ihrer Ex-Freundin zu gefallen, hat sie zu viel Geld ausgegeben. Bisher hat Kayleigh in einem Call-Center gearbeitet. Heisst konkret: Sie musste sich den ganzen Tag anbrüllen lassen. Verglichen damit findet sie den Job bei Hexa geradezu angenehm. 

«Ich wusste, worauf ich mich einliess. Ich wusste, was ich da machte. Und ich war ziemlich gut darin. Ich kann die Richtlinien von damals immer noch alle herunterbeten und wende sie auch im Alltag ab und zu an, das läuft automatisch, eine Berufskrankheit: Ich tue es bei Serien, Videoclips oder ganz einfach bei Dingen, die ich um mich herum wahrnehme, die Frau mit dem Elektromobil da draussen beispielsweise, die in der Einfahrt zum Parkplatz angefahren wird, dürfte das auf der Plattform stehen bleiben? Nicht, wenn Blut sichtbar ist. Dagegen schon, wenn die Situation eindeutig komisch ist. Nicht, wenn Sadismus im Spiel ist, Allerdings schon, wenn das Gezeigte einen aufklärerischen Wert hat – und bingo, den hat es: Die Einfahrt zum Museumsparkplatz ist in puncto Verkehrssicherheit nämliche eine absolute Katastrophe: «Da muss endlich mal was getan werden!», wenn ich das darunterschriebe, wäre es erlaubt. Das sind die Dinge, über die ich so nachdenke, während ich vier neuen Besuchern ihre Eintrittskarten abreisse. Und nein, es ist nicht immer angenehm, dass die Richtlinien mit ständig durch den Kopf schwirren, aber wissen Sie: Irgendwie bin ich nach wie vor stolz, dass ich die Regen so schnell und präzise anwenden konnte, – Bloss: Das ist nicht, was Sie von mir hören wollen, oder?» (S. 9.f)

Das Zitat aus dem Roman macht zwei Dinge deutlich. Zum einen geht es Hexa nicht um den Inhalt der Beiträge, es geht nur um Formalitäten. Um eine spitzfindige Anwendung des Regelwerks, nicht drum, wie es den Menschen geht, die auf den Bildern zu sehen sind – oder jenen, die sie betrachten. 

Und da ist zum anderen die ungewöhnliche Form der Erzählung. Er ist als Brief von Kayleigh an einen Anwalt namens Stitic gerichtet, der offenbar im Namen von ehemaligen Mitarbeitern gegen Hexa prozessiert. Kayleigh will nicht mit dem Anwalt reden, weil sie sich nicht als Opfer von Hexa fühlt. Bei ihren Kolleginnen und Kollegen hat die Arbeit bei Hexa zu psychischen Schäden geführt, zu Psychosen, Angstzuständen oder Schlaflosigkeit. Kayleigh sieht sich anders und will deshalb nicht gegen Hexa aussagen:

«Um aber zu verstehen, warum ich auf Ihre Bitte nicht eingehe, müssen Sie erst etwas Über mich wissen, Herr Stitic. Die Bilder, die mich nachts wach halten, sind nicht die abscheulichen Fotos blutender Jugendlicher und nackter Kinder, nicht die Videos von Messerstechereien oder Enthauptungen. Die Bilder, die mir den Schlaf rauben, sind Bilder von Sigrid, meiner damaligen Lieblingskollegin. Sigrid, an die Wand gepresst, stocksteif und nach Luft schnappend – das sind die Bilder, die ich gerne vergessen möchte.»

Kayleigh schreibt dem Anwalt deshalb einen Brief – dieses Buch. 

Es ist der Bericht einer schleichenden Entmenschlichung und zwar aus der Sicht eines Opfers, das Kayleigh trotz aller Beteuerungen eben doch ist. Gerade dass sie ihre eigene Entmenschlichung nicht bemerkt, macht deutlich, wie stark sie die Arbeit bei Hexa mitgenommen hat.

Dabei hat es eigentlich gut angefangen. Der Job ist gut bezahlt, der Druck zwar hoch, aber dafür freundet sich Kayleigh mit einigen Mitarbeitern an. Als sie sich in ihre Kollegin Sigrid verliebt, scheint ihr Glück vollkommen. Bis ihre Kollegen plötzlich zusammenbrechen oder Verschwörungstheorien anhängen, und Sigrid sich immer mehr distanziert. Hat sich Sigrid verändert – oder ist es Kayleigh, die sich unter dem Einfluss der fürchterlichen Bilder und Videos verändert hat? 

An zwei Stellen im Buch hinterfragen sich die Mitarbeiter bei Hexa: Wenn das, was sie sagen und was sie tun, gefilmt worden wäre und als Beitrag auf Hexa stünde – müssten sie es dann löschen? Sie geben sich keine Antwort. Die Antwort gibt der Titel des Buchs: Der Beitrag, der da entfernt wurde, das ist die Menschlichkeit, ja das Leben von Kayleigh und ihren Kollegen.   

«Dieser Beitrag wurde entfernt» ist ein packendes Buch, weil Hanna Bervoets es schafft, dass wir hereingezogen werden in die Welt von Kayleigh und plötzlich selbst nicht mehr wissen, was wahr ist und was nur wahrgenommen, was Realität ist und was Medium. Hanna Bervoets macht so auf eindrückliche Weise deutlich, dass sich Texte und Bilder auf sozialen Netzwerken nicht einfach als mediale Inhalte abtun lassen – weil sie selbst eine furchterregende Realität sind. Wie der Müll am Morgen nach einer Party in der Stadt.

Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt. Roman. Hanser Berlin, 112 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-446-27379-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446273795

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. September 2022, Matthias Zehnder

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