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Diebe des Lichts
Philipp Blom ist Historiker und Autor von Sachbüchern wie «Der taumelnde Kontinent» über Europa von 1900 bis 1914 oder «Die zerrissenen Jahre» über die Zeit zwischen 1918 und 1938. Bloms Sachbücher haben begeistert, weil sie hervorragend erzählt sind. Jetzt hat Blom quasi die Seiten gewechselt: Der Historiker hat einen historischen Roman vorgelegt: «Diebe des Lichts» heisst das Buch. Hintergrund der Geschichte ist der blutige Feldzug der spanischen Krone in den Niederlanden: Von 1567 bis 1573 schlug Fernando Álvarez de Toledo auf äusserst blutige und grausame Weise den Aufstand er Calvinisten gegen die katholische Kirche in Flandern nieder. Die spanischen Besatzer brandschatzen, vergewaltigen und töten in den Niederlanden. Im Buch ermorden die Spanier den Vater von zwei niederländischen Buben auf einem kleinen flandrischen Gehöft. Die beiden Buben flüchten in die Wälder und überleben. Der ältere der beiden, Sander, ist ein begabter Zeichner. Er geht später in die Lehre bei einem Blumenmaler. Hugo, dem jüngeren der beiden, verschlagen die Ereignisse die Sprache: Er verstummt. Er weicht seinem begabten Bruder nicht mehr von der Seite und wird dessen Assistent.
Das Buch erzählt, wie beiden Brüder in Rom in der Werkstatt eines bekannten Malers anheuern. Wie Sander zum gefragten Blumenmaler wird, sich aber unglücklich verliebt und von seinem Meister verstossen wird. Wie er einem Kardinal nach Neapel folgt und da fast sein Glück findet, bis er von seiner Vergangenheit eingeholt wird und eine fürchterliche Wahl treffen muss. Das Buch ist sprachlich präzis, ja hervorragend geschrieben und historisch genau. Bloss das, was da passiert, ist zum Teil schwere Kost. Aber dazu später.
Ich bin im Allgemeinen kein Freund von Trigger-Warnungen. Bei diesem Buch muss ich aber eine Ausnahme machen: Es schildert stellenweiser grausame Begebenheiten, die nur schwer verdaulich sind. Immerhin sind die Schilderungen nie sadistisch, sie entspringen immer der historischen Notwendigkeit. Trotzdem sind sie manchmal schwer erträglich. Der Roman spielt in einer Zeit, in der das Leben eines gemeinen Menschen nichts wert war. Geradezu erschütternd ist es, zu lesen, wie sehr Recht und Gerechtigkeit von Stand und Vermögen abhängig waren.
Hauptfigur des Romans ist Sander. Der Roman setzt 1572 ein. Ein Trupp spanischer Soldaten brennt auf der Suche nach Aufständischen den Weiler der Eltern von Sander niederbrennt. Geschildert ist das Geschehen aus der Sicht einer Krähe, der auf einem Baum sitzt und quasi kopfschüttelnd den Menschen zuschaut, wie sie sich gegenseitig abschlachten.
Der erste Teil des Romans spielt ab 1599 in Rom. Es ist die Zeit, in der Michelangelo Merisi, besser bekannt als Caravaggio, in der Heiligen Stadt seine grossen, ausdrucksstarken Bilder malt.
«Sie sind hier, weil gute Maler hier immer Arbeit finden, weil sie nichts hatten, was sie zu Hause hielt, weil sie müde sind von Reisen. Langsam sind die Wanderjahre vorbei. Die Niederlande versinken im Krieg, überall droht Gewalt, jede Menschenmenge kann zur Meute werden, Nachbarn zünden einander die Häuser über dem Kopf an, und lebende Menschen werden ihren Kirchen verbrannt. Nichts ist heilig, wenn es um den wahren Glauben geht. Dieser Krieg tobt nicht nur auf Schlachtfeldern und in den Strassen. Er wird bis in die Köpfe getragen. Die katholische Kirche ist entschlossen, die Schlacht der Bilder gegen ihre protestantischen Feinde zu gewinnen. Rom sucht nach Künstlern, die die Mysterien der Religion schmerzhaft deutlich machen, so, als stünde der Beter selbst im Bild, als würde er selbst das Martyrium erleiden, die Nägel ins eigene Fleisch eindringen sehen, die Flammen auf der blossen Haut fühlen, die Ekstase der Erlösung mit der eigenen, jauchzenden Seele. Malerei soll Menschen zu Tränen rühren, staunen und Mitleid erregen und die Gläubigen in Ihrem tiefsten Seele bewegen. Die Gesichter der heiligen und Märtyrer sollen alltäglich sein, hier leid im Mittelpunkt: schwierige Hände und dreckige Füsse, spritzendes Blut und Schmerz verzerrte Züge.» (S. 41f.)
Sander und sein stummer Bruder Hugo haben sich nach Rom durchgeschlagen und bieten auf der Strasse kleine Blumenbilder feil. Sandro della Molina nennt sich Sander jetzt. Einem älteren Maler fallen die Bilder auf: Virgilio Nobili nimmt ihn in seiner Werkstatt auf. Sander und Hugo arbeiten künftig für Nobili. In Rom ist er bekannt – aber er hat seine besten Tage schon hinter sich. Er verbringt mehr Zeit in der Kneipe mit einem Becher Wein in der Hand als in der Werkstatt mit Pinsel und Farbe.
Sander ist das recht: Er hat seine Ruhe und malt. Pflanzen und Blumen, die man mit Händen greifen kann, aber auch andere Elemente der Bilder, welche die Werkstatt des Meisters verlassen. Die Werkstatt wird längst von der Tochter des Meisters geführt, von Diana. Dem Geschäft ist das zuträglich. Bald haben Diana, Sander, Hugo und zwei Lehrlinge alle Hände voll zu tun, um all diese Kommissionen zu erfüllen: Stillleben und blumenbekränzte Madonnen und Heilige und pausbäckige Kleinkinder mit Sträussen in der Hand. Endlich erhält der Meister auch wieder einen grossen Auftrag: Er soll den Festsaal von Kardinal Della Valle ausmalen. Doch dem Kardinal gefallen die Bilder von Sander besser. Und dann hält der junge Maler auch noch um die Hand der Malertochter an. Aus gutem Grund.
Es kommt zum Konflikt zwischen dem Meister und dem Könner aus Flandern. Sander verliert alles, pokert hoch und wird schliesslich von Don Pedro Guzmán angeheuert, einem spanischen Kardinal, der im Auftrag der Inquisition in Rom weilte. Don Pedro hat über Giordano Bruno gerichtet und dafür gesorgt, dass der Häretiker auf dem Scheiterhaufen landete. Jetzt nimmt er die beiden Brüder mit nach Neapel. Sie folgen ihm, dem spanischen Adeligen, nicht freiwillig: Er erpresst sie.
Der zweite Teil es Buchs spielt ab 1601 in Neapel. Sander malt im Auftrag von Don Pedro das Altarbild in einer Kirche, wird aber bald dessen Ratgeber. Denn der spanische Kardinal leidet an der «französischen Krankheit», also an Syphilis. Er war in seiner Jugend Soldat und hat nicht und auf dem Feld, sondern auch in so manchem Bett gekämpft. Jetzt leidet er unter den Schüben der Krankheit und unter den Geschwüren, die sie verursacht. Sander vermittelt ihm die Heilungskünste einer Frau, die eigentlich als Hexe hätte verurteilt werden sollen und jetzt dem Kardinal mit Quecksilbersalbe hilft.
Auch in Neapel erleben Sander und Hugo glückliche Stunden – aber auch hier zerschellt das kleine Glück an der Macht der grossen Herren. Auch hier werden sie zum Opfer der mächtigen Kleriker, auch hier wird Sander in Dienst und Händel gepresst. Wie Philipp Blom die ruchlosen Kardinäle schildert, die ihre Macht ausüben, mit Kindern handeln, Mädchen in die Prostitution pressen, mit Krieg und Händeln Geld verdienen, das ist kaum auszuhalten.
Und doch ist es eine spannende Geschichte und Sander eine interessante Figur. Ein Maler, der, wie Caravaggio, zum Opfer seines Temperaments und der mächtigen Männer der Kirche wird. Die Handlung hat mich dabei bald weniger interessiert als die Schilderung des Alltags und vor allem die präzise Beschreibung des Malerhandwerks. Es ist eine Zeit, in der ein Menschenleben nichts zählt und von Gerechtigkeit und Gott nur in den Büchern die Rede ist. Bücher, die das Volk ohnehin nicht zu lesen versteht. Das Schlusswort haben, passenderweise, die Krähen, die wieder über diese blutrünstigen Menschen die Köpfe schütteln.
Philipp Blom bietet mit seinem Buch einen realistischen, eine drastischen Einblick in den Alltag der Menschen im anbrechenden 17. Jahrhundert. Vielleicht müsste man eher sagen: ins Elend der Menschen. In unseren Geschichtsbüchern ist von Königen, Herzogen und Kardinälen die Rede und es sind ihre Paläste abgebildet. Vom Kampf der Menschen ums Überleben im Alltag ist kaum je die Rede. Sie hatten keine Bildung, keine Rechte und oft kaum zu Essen. Es galt das Recht des Stärkeren, Krankheiten und Tod waren ständige Begleiter. Die realistische Schilderung der Zeit machen Philipp Bloms Buch zu einem spannenden Roman, den man nicht so schnell aus der Hand legt – und nicht so schnell vergisst.
Philipp Blom: Diebe des Lichts. Roman. Blessing, 480 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-89667-689-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783896676894
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Basel, 11. Januar 2022, Matthias Zehnder
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