Video-Buchtipp

Nächster Tipp: Eine unwahrscheinliche Begegnung
Letzter Tipp: Die Passage nach Maskat

Die Schwalben von Montecassino

Publiziert am 21. September 2022 von Matthias Zehnder

Die Abtei Montecassino zwischen Rom und Neapel ist das Mutterkloster aller Benediktiner: Benedikt von Nursia hat die Abtei im Jahr 529 an der Stelle eines alten Apollotempels errichtet. Bei uns ist die Abtei vor allem bekannt, weil die Alliierten und die Deutsche Besatzungsmacht hier 1944 eine der längsten und blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs ausgetragen haben: Die Schlacht von Montecassino. Helena Janeczek, deutsch-italienische Autorin mit polnischen Wurzeln, erzählt die Geschichte der Schlacht aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Denn an der Schlacht haben Soldaten aus Polen ebenso teilgenommen wie amerikanische GIs und Maori-Kämpfer aus Neuseeland. Helena Janeczek webt aus diesen unterschiedlichen Geschichten in kühler Sprache einen Geschichtenteppich, der unter die Haut geht. In meinem 122. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie dieses Buch lesen können, auch wenn Sie mit Kriegsgeschichten nichts am Hut haben.

Der Berg von Cassino war Anfang 1944 für die alliierten Soldaten auf dem Weg nach Rom ein riesiges Hindernis. Von Januar bis Mai 1944 kämpften 105’000 alliierte Soldaten mit 80’000 deutschen Soldaten um den Monte Cassino. 20’000 deutsche und 55’000 alliierte Soldaten wurden dabei verwundet oder starben. Auf der Seite der Alliierten kämpften nicht nur amerikanische und britische Truppen, sondern auch französische, polnische, anglo-indische, neuseeländische, algerische und marokkanische Soldaten. Vielleicht auch Helena Janeczeks Grossvater. 

Die Abtei von Montecassino zwischen Rom und Neapel. Bild: Maurizio Distefano/Adobe.com

An den Flanken ihres Berges sterben Menschen aus der ganzen Welt, viele von ihnen ohne zu wissen, für wen und vor allem gegen wen sie da eigentlich kämpfen. Unter ihnen auch Charles Maui Hira vom 28. Bataillon der Maori. Helena Janeczek erzählt, wie sein Enkel Rapata Sullivan nach Italien reist, um herauszufinden, warum sein Grossvater da gekämpft hat. Auf dem Soldatenfriedhof von Montecassino findet Rapata die Gräber der Kämpfer, nicht nur die der Maori-Soldaten, sondern auch die Gräber der Gurkhas, nepalesischer Soldaten im Dienst der British Army und der indischen Streitkräfte.

«Rapata hatte das hintere linke Geviert des Friedhofs erreicht, in dem die Gräber der Gurkhas lagen. Er schritt es ab und las die Inschriften: Die meisten Gefallenen waren jünger als achtzehn.
Wundert dich das?, fragte er sich. Er wusste doch, dass viele der Jungen, die mit dem Bataillon aufgebrochen waren, sogar noch jünger gewesen waren, die Altersuntergrenze hatte nur auf dem Papier existiert, auf dem üblichen scheinheiligen Feigenblatt, man musste sich nur melden und eine falsche Angabe machen, die sowieso niemand kontrollierte. Es waren Freiwillige, oder nicht? Keiner zwang sie, Soldat zu werden. Immer hereinspaziert, wollten sie ihre nackten Füsse und ihre unbehaarten Körper doch in Kampfstiefel und Uniformen zwängen. Die Jungen, die in jenen fernen Winkeln der Erde rekrutiert waren, um den gerechten Krieg der Weltbefreiung zu kämpfen, waren allesamt Freiwillige gewesen – Gurkhas, Inder und Maori. Auch wenn sie keine Ahnung hatten, wo Deutschland lag, und ihnen der Name des Tyrannen vor ihrer Gefechtsausbildung noch nie zu Ohren gekommen war. Für sie genügten Essen, Kleidung, ein Feldbett unter freiem Himmel und natürlich Sold. Wie viel waren die Leben dieser Jungen wert? Rapata stellte fest, dass er es nicht wusste.» (S. 98f.)

Spätestens hier kann man nicht anders, als an die Ukraine zu denken, wo es auf Seite der russischen Armee wohl ebenfalls viele junge Männer aus entlegeneren Gegenden Russlands gibt, die auf das Versprechen von Essen, Kleidung und Sold aufgebrochen sind und nicht wissen, wofür und wogegen sie in der Ukraine kämpfen.

Helena Janeczek wertet nicht, sie beschreibt nur. Etwa den jungen Texaner Jacko Wilkins, der fünfte Sohn bescheidener Rancher aus San Marcos in Texas, der in der Nacht des 20. Januar 1944 im Fluss Rapido verschwand. 

Doch die ungewöhnlichste Armee am Monte Cassino ist die der Polen: Ihre Soldaten, unter ihnen viele Juden, kommen aus sowjetischen Lagern und gelangten in einer abenteuerlichen Irrfahrt nach Italien, um für Freiheit von Hitler und Stalin zugleich zu kämpfen. Daunter befindet sich Samuel «Milek» Steinwurzel, Sohn jüdischer Holzhändler, der in Italien umgehend zu «Emilio» wird, weil die Italiener weder mit Samuel noch mit Milek etwas anfangen können. Die Biografie des Mannes spiegelt die Weltgeschichte wieder: Er ist Pole aus Lemberg, das wir heute als Lwiw kennen, als Teil der Ukraine. Er wurde von den Sowjets als Kriegsgefangener in den Gulag geschickt. In Sibirien gelang es ihm, zur Arme zu stossen, die sich gerade formierte, mit ihr kam er nach Italien und kämpfe mit anderen Polen auch um die Abtei Montecassino. Es sind absurde Kapriolen der Weltgeschichte, eine Geschichte, die, wie Janeczek schreibt, so sagenhaft klingt, dass sie bei ihren Zuhörern sämtliche Fragen erstickt.

Helena Janeczeks dokumentarischer Roman ist der Versuch, diese Kapriolen der Weltgeschichte zu verstehen und aus verschiedenen Perspektiven nachzuzeichnen. Der Zweite Weltkrieg ist ein Mahlstrom, der so gut wie jeden Winkel der Welt umgepflügt hat. Er ist viel zu gross un dazu komplex, als dass man ihn erfassen könnte. Helena Janeczeks dokumentarischer Roman über die Schlacht von Montecassino wird zum Brennglas: Sie leuchtet exemplarisch eine Handvoll Schicksale aus und lässt uns anhand der einzelnen Geschichten die Wucht des ganzen Mahlstroms erahnen.  

Helena Janeczek: Die Schwalben von Montecassino. Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull. Berlin Verlag, 432 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-8270-1443-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783827014436

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 15. September 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/