Video-Buchtipp

Nächster Tipp: In einer dunkelblauen Stunde
Letzter Tipp: Das Elch-Paradoxon

Die Rote Insel

Publiziert am 19. Januar 2023 von Matthias Zehnder

Die goldenen 20er-Jahre waren nicht für alle Menschen so golden. Schon gar nicht für alleinstehende Frauen. Das zeigt auf eindrückliche Art Anne Stern in ihrem neuen Roman der Fräulein Gold-Serie: «Die Rote Insel» heisst die Geschichte. Sie spielt 1926 in einem Viertel hinter dem Bahnhof Schöneberg in Berlin, das als rote Insel bekannt ist, weil das Quartier fest in der Hand der Kommunisten ist. Hulda Gold, die Hauptfigur der Roman-Serie, erwartet ein Kind. Ihr Verlobter ist tödlich verunglückt, sie ist alleinstehend. Sie darf deshalb nicht mehr als Hebamme im Krankenhaus arbeiten. Auf der roten Insel hat sie eine Stelle gefunden als Arzthelferin. Die Ärztin, bei der Hulda arbeitet, ist überzeugte Kommunistin und nimmt es mit dem Gesetz nicht ganz so genau: Sie nimmt Abtreibungen vor, was damals natürlich streng verboten war. Nicht nur deshalb kommt Hulda in die Bredouille. In meinem 137. Buchtipp sage ich Ihnen, warum dieses Buch mehr über die so genannt goldenen 20er-Jahre sagt als manches Geschichtsbuch – und das erst noch auf spannende Art und Weise.

Die meisten Geschichtsbücher erzählen die Geschichte aus der Perspektive von mächtigen Männern: Reichskanzler, Heerführer, Ministerpräsidenten. Anne Stern nimmt gleich in doppelter Hinsicht eine andere Perspektive ein auf die 20er-Jahre: Ihre Heldin ist eine junge Frau und sie ist alles andere als reich und mächtig. Hulda Gold ist Hebamme. Oder besser: Sie war es. Denn sie ist schwanger und nicht verheiratet. Und in diesem Zustand darf sie natürlich nicht im Gebärsaal arbeiten. Sie musste deshalb ihre geliebte Stelle in der Frauenklinik aufgeben und auch ihr Mansardenzimmer. Jetzt lebt sie im Arbeiterviertel «rote Insel» hinter dem Bahnhof Schöneberg und wohnt in einem kleinen, feuchten Zimmer im Kellergeschoss eines Mietshauses.

Dabei kann sie noch von Glück reden: Sie hat eine Stelle gefunden als Arzthelferin. Sie unterstützt die junge Ärztin Grete Fischer in deren Praxis. Grete ist Feministin und Kommunistin. Den Bewohnern des Viertels ist das egal: Für sie ist Grete schlicht ein Engel. Sie behandelt alle. Verletzte Arbeiter, kranke Kinder und ungewollt schwangere Mütter. Ja, Grete nimmt heimlich auch Abtreibungen vor. Zum Beispiel nach einer Vergewaltigung. Ihr Freund Theo will ihr das schon lange ausreden. Er fürchtet, dass sie die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zieht und damit die Arbeit der KPD, der Kommunistischen Partei, gefährdet. Denn die rote Insel heisst nicht zufällig so: Das Quartier ist fest in der Hand der «Roten».

Hulda interessiert sich nicht für Politik. Bloss die Nazis, die sind ihr unerträglich. Aber sie würde auch einen verletzten Faschisten verarzten. In erster Linie versucht sie, zusammen mit Grete die Not der kleinen Leute im Quartier zu lindern. Kinder, die an Tuberkulose leiden. Frauen, die vor Mangelernährung in der Praxis zusammenbrechen. Schon als Hebamme hat sich Hulda um Frauen gekümmert, in der Arbeiterpraxis stehen sie wieder im Fokus.

«Frauen waren weniger wert als Männer, und ihre Sorgen unterlagen im Kampf mit den männlichen Bedürfnissen. Aber letztlich war alles eine Frage des Geldes, der Markt legte die Regeln fest, ohne dass Huldas oder Gretes Vorstellungen von weiblicher Emanzipation und Frauenschutz dabei irgendeine Rolle spielten.
Die Glocken der Königin-Luise-Gedächtniskirche klangen durchs geöffnete Küchenfenster – sieben Schläge, gedämpft vom Tröpfeln des Regens, der seit heute morgen wieder fiel. Wenn jetzt nicht noch etwas Unvorhergesehenes geschah, konnte sie diesen Tag als beendet betrachten, dachte Hulda und sehnte sich nach ihrem schmalen Bett unten in ihrem Kellerzimmer. Nach etwas Ruhe und Geborgenheit fernab des scharfen Blicks ihrer Kollegin und der Bedürfnisse der Patienten, die den ganzen Tag das Wartezimmer und den Flur bevölkert hatten. Seit gestern hatte Hulda nicht viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und sie war nicht sicher, ob ihr das ganz recht war oder sie doch danach  verlangte, in der Stille ihres winzigen Zuhauses die Gedanken zu ordnen. Stoff zum Nachdenken hatte sie genug. Doch leider war das meiste davon wie gemacht dazu, ihr den Schlaf zu rauben.» (S. 106)

Huldas Gedanken kreisen nicht nur um ihre eigene Zukunft. Wie soll das gehen als alleinstehende Frau mit einem Kind? Sie konnte ihr Kind ja nicht mitnehmen zur Arbeit in die Praxis und schon gar nicht in den Kreissaal. Stärker als ihr eigenes Schicksal beschäftigt Hulda der Mord an einem Nachbarn, einem Kohlenhändler, der erschlagen in seinem Hinterhof gefunden worden ist. Er war Kommunist und ist kurz zuvor mit SA-Leuten in einen Streit geraten. Haben die SA-Leute ihn deshalb erschlagen? Grete und Theo sind überzeugt davon und wollen sich an den SA-Männern rächen. Aber ist es so einfach?

Und dann taucht plötzlich Karl North wieder auf in Huldas Leben. Kennengelernt haben sich die beiden in einem der früheren Bände der «Fräulein-Gold»-Serie, man versteht die Geschichte aber gut auch ohne die Folgen eins bis vier gelesen zu haben. Karl sieht unverschämt gut aus. Wenn sich Hulda und Karl treffen, dann funkt es sofort, es fliegen aber auch innert Minuten die Fetzen. Da ist nicht nur eine grosse Anziehung, die beiden geraten auch sofort in Streit. Karl hat mittlerweile seine Stelle bei der Kriminalpolizei quittiert und arbeitet als Privatdetektiv. Er ist ausgerechnet auf den Mann angesetzt worden, der ermordet im Hinterhof gefunden wurde. Steckt doch mehr hinter dem Mord, als die Kommunisten im Quartier glauben?

Als Hulda gegenüber Grete den Protest der Kommunisten zu hinterfragen wagt, beisst sie aber auf Granit. Grete steht zu ihrer Partei. Und zu ihrer Nachbarschaft. Das ist auf der roten Insel fast dasselbe. Grete sagt, dass die meisten Menschen auf der Seite der Kommunisten stehen.

«‹Wie kann man nicht auf unserer Seite sein, wenn man die Zustände der Arbeiterfamilien sieht? Hulda, du selbst weisst doch nur allzu gut, wie es um uns steht. Die Sozialpolitik in dieser Stadt ist ein Witz! Viel zu viele fallen durch die Maschen.› Grete redete sich in Rage. ‹Nur weil ein paar Grossunternehmer endlich wieder fettes Geld verdienen nach der Inflation, heisst das noch lange nicht, dass es uns kleinen Leuten auch besser geht. Alle sprechen von den goldenen Jahren, vom Aufschwung … Aber wo ist er? Wo ist diese goldene Zeit? Bis in die Hinterhöfe der Sedanstrasse scheinen ihre Strahlen jedenfalls nicht hinein!›» (S. 111)

Das soziale Elend, das die einfachen Leute 1926 erleben und erdulden müssen, ist sehr eindrücklich geschildert. Vor allem das der Familien und der Frauen. Kein Wunder, packt Hulda mit an in der Praxis von Grete, auch wenn sie von deren Kommunismus nichts wissen will. Dabei ist Hulda nur etwas im Weg: ihr Bauch, der immer grösser wird. Dass sie schwanger ist, hat sie erst gemerkt, als ihr Verlobter schon tödlich verunfallt war. Jetzt freut sie sich gegen alle Vernunft auf ihr Kind. Die Geburt des Kindes ist denn auch der Höhepunkt des Buches, auch wenn sich die Geburt ganz anders abspielt, als Hulda und wir Leserinnen und Leser das erwarten.

Kein Zweifel: Anne Stern ist mit der Serie rund um Hulda Gold eine packende Geschichte über die 20er-Jahre gelungen. Der Roman bietet eine gute Mischung aus Historie, Krimi-Plot und Alltagsschilderung. Besonders eindrücklich ist immer wieder die Sicht auf die einfachen Leute, vor allem auf die Situation der Frauen. Man merkt dabei, dass Autorin Anne Gold nicht nur die Zeit, sondern auch die Gegend hinter dem Bahnhof Schöneberg gut kennt: Sie selbst hat einige Jahre auf der roten Insel in Berlin gewohnt und sich damals geschworen, dass die Strassen und die Menschen einmal in einem Buch auftauchen. Spannend.

Anne Stern: Fräulein Gold: Die Rote Insel. Rowohlt, 432 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-499-00916-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499009167

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 19. Januar 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/