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Die Postkarte

Publiziert am 30. August 2023 von Matthias Zehnder

2003 erhält Lélia Picabia eine Postkarte. Die Karte zeigt auf der Vorderseite die Opéra Garnier, eines der zwei Pariser Opernhäuser, auf der Rückseite stehen untereinander vier Namen: Ephraim, Emma, Noémie und Jacques. Es sind die Namen der Grosseltern, des Onkels und der Tante von Lélia Picabia. Sie alle sind 1942 von den Nazis in Auschwitz ermordet worden. Von der ganzen Familie hat nur Myriam überlebt, Lélias Mutter. Fast zwanzig Jahre später will Lélias Tochter herausfinden, wer diese Karte geschrieben hat. Lélias Tochter ist die Schriftstellerin Anne Berest. Das Resultat ihrer Recherche ist der Roman «Die Postkarte». Das Buch öffnet einen heutigen Blick auf den Holocaust und den französischen Antisemitismus. Und zwar nicht nur den Antisemitismus der 40er Jahre, sondern auch den der Gegenwart. In meinem 169. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich finde, dass dieses Buch auf den Nachtisch jedes Jugendlichen gehört.

Lélia Picabia war Linguistikprofessorin an der Université de Paris-VIII. Sie hat die Bücher über die Generative Grammatik von Noam Chomsky ins Französische übersetzt. Das hat mit dem Buch nichts zu tun, es hat mich aber persönlich berührt, weil ich mich zu dieser Zeit an der Universität Zürich mit Generativer Grammatik beschäftigt habe und in meinen Tutoraten die Bücher von Chomsky und seine Generative Grammatik auf Deutsch erklärt habe.

Diese Lélia Picabia also findet 2003 in ihrem Briefkasten jene Postkarte, die dem Roman den Titel gegeben hat. Die Vorderseite zeigt die Opéra Garnier, auf der Rückseite stehen in ungelenker Handschrift vier Namen: Ephraim, Emma, Noémie und Jacques. Es sind die Namen ihrer Grosseltern, ihres Onkels und ihrer Tante. Mit Ausnahme von Lélias Mutter Myriam ist ihre ganze Familie in Auschwitz ermordet worden. Als Lélia die Postkarte mit den Namen ihrer ermordeten Verwandet erhält, empfindet sie das als Bedrohung. Sie versteckt die Karte.

Zehn Jahre später steht ihre Tochter Anne Berest kurz vor der Entbindung. Sie muss liegen, damit das Baby nicht zu früh zur Welt kommt. Während sie auf die Geburt wartet, denkt sie an ihre Mutter, an ihre Grossmutter, an die Reihe der Frauen, die vor ihr ein Kind bekommen haben. Und plötzlich will sie unbedingt die Geschichte ihrer Vorfahren hören. Also erzählt Lélia Picabia ihr die Geschichte der Familie Rabinovitch. Das ist der erste Teil des Buchs.

Ephraim Rabinovitch, also Annes Urgrossvater, wächst in Moskau auf. Er ist ein brillanter Schüler und kann deshalb studieren, obwohl in Russland ein Numerus Clausus den Anteil der Juden an der Universität auf drei Prozent beschränkt. Er wird Ingenieur und sieht sich nicht als Jude, sondern als Sozialist, als Sozialrevolutionär. 1919, Ephraim ist 25 Jahre alt, heiratet er Emma Wolf aus Lodz, die Tochter eines Grossindustriellen, der mehrere Textilfabriken besitzt.

Kurze Zeit später wird das junge Paar zur Flucht gezwungen: Die Bolschewiken säubern die revolutionären Reihen. Die Rabinowitchs flüchten von Moskau nach Riga. Auf diese erste Flucht folgen weitere: Juden sind nicht gern gesehen, vor allem dann nicht, wenn es ihnen gut geht. Vorübergehend findet die Familie Rabinovitch Zuflucht bei den Eltern in Palästina. Doch Ephraim hält es nicht lange aus in der Wüste. Es zieht ihn zurück in die Stadt, nach Paris. Sein Vater warnt ihn, er werde nie wirklich dazugehören. Sei lieber ein Weiser in der Hölle als ein Narr im Paradies, sagt der Vater. Doch Ephraim schlägt diese Warnung und viele weitere in den Wind.

Tatsächlich gelingt der Familie auch in Paris ein sozialer Aufstieg. Ephraim gründet eine Firma für seine Erfindungen und ist erfolgreich. Die Kinder sind intelligent und setzen sich in der Schule durch. Bald studieren Myriam und Noémie an der Sorbonne und auch Jacques, der Jüngste, macht sich gut. Doch dann dreht der Wind in Frankreich. Die beantragte Einbürgerung wird mit fadenscheinigen Gründen immer wieder abgewiesen. Aus Deutschland treffen immer mehr Flüchtlinge ein. Die Rabinovitch wollen mit ihnen nichts zu tun haben: Sie fühlen sich als Franzosen. Ephraim ist sicher, dass er ein geachteter Bürger ist, dass er dazugehört.

Doch Frankreich behandelt die Familie als Juden. Die Rabinovitchs müssen aufs Land flüchten. Nach der Eroberung Frankreichs durch die deutschen Truppen werden sie verhaftet und deportiert. Nicht etwa durch deutsche Soldaten, sondern durch französische Beamte. Nur Myriam entkommt aufgrund eines Zufalls. Ephraim, Emma, Noémie und Jacques werden nach Auschwitz verschleppt und da vergast.

Das ist die traurige Geschichte der Familie Rabinovitch, die Lélia Picabia ihrer hochschwangeren Tochter erzählt. Sie hat die Schicksale ihrer Familie recherchiert. Recherchieren müssen: Ihre Mutter, Myriam, hat ihr nie davon erzählt. Sie hat die Namen ihrer ermordeten Geschwister und Eltern nie wieder ausgesprochen.

Der zweite Teil des Romans spielt zehn Jahre später. Die Tochter von Anne Berest fragt, ob sie Jüdin sei. «Weil in der Schule, da mögen sie Juden nicht besonders.» Das löst bei Anne Berest die Erinnerung an die Postkarte aus. Sie verbeisst sich in eine Recherche nach der Herkunft dieser Karte. Das ist der Inhalt des zweiten Teils des Buchs. Es ist eine spannende Schilderung der Suche nach der eigenen Geschichte, in ganz unterschiedlichen literarischen Formen erzählt.

Vor allem aber wiederholt sich auf erschreckende Weise die Geschichte. Anne und ihre Familie verdrängen, dass sie Juden sind. Sie fühlen sich als Franzosen, sie empfinden ihr Judentum als Randnotiz der Genealogie. Frankreich sieht in ihnen aber weiterhin Juden. Zugewanderte Emporkömmlinge.

François, ein Freund von Anne, ruft aus: «Sieh uns doch an, wie wir hier am Tisch sitzen. Wir sind alle Kinder oder Enkelkinder von Einwanderern. Jeder Einzelne von uns. Aber nehmen wir uns selbst so wahr? Keineswegs. Wir halten uns für französische Bürger aus der erfolgreichen Mittelschicht. Wir haben allesamt das Gefühl, perfekt assimiliert zu sein. Unsere Namen klingen ausländisch, aber wir kennen uns mit den heimischen Weinen aus, haben die französischen Klassiker gelesen, kochen Kalbsfrikassee … Denkt doch einmal gut nach und fragt euch, ob dieses Gefühl, hier tief verwurzelt zu sein, nicht dem Selbstverständnis der französischen Juden von 1942 ähnelt. Viele von ihnen hatten während des Ersten Weltkriegs in der Armee gedient. Und trotzdem wurden sie in die Züge gesteckt.» (S. 255)

Anne Berest lässt uns teilhaben daran, wie jüdische Franzosen heute exakt der gleichen Verleugnung anheimfallen wie 1942 – und wie die Franzosen exakt denselben Antisemitismus praktizieren wie damals. Das ist das Brisante an ihrem Buch: Sie zeigt minutiös auf, wie stark die Franzosen involviert waren in die Shoa, wie vom Bürgermeister bis zum Tagelöhner alle im Dorf davon profitierten, dass die jüdische Familie deportiert wurde, wie das Dorf sich ihre Habe aneignen konnte – und wie di Einwohner des Dorfs heute noch ihre Rolle von damals und den Antisemitismus der Gegenwart verleugnen und verdrängen.

Anne Berest erzählt das nicht trocken und distanziert. Sie lässt uns erleben, dass wir Menschen von heute exakt dieselben Gefühle, dieselben Sehnsüchte und dieselben Ängste haben wie die Menschen in den 40er Jahren, egal, auf welcher Seite wir stehen. Sie weckt damit das Bewusstsein für den Antisemitismus der Gegenwart und erschliesst jungen Menschen die Geschichte der Shoa neu. Weil die Geschichte verpackt ist in die Suche nach dem Absender der geheimnisvollen Postkarte, gelingt es ihr, die Leserin, den Leser in ihre Geschichte hineinzuziehen und zu involvieren. «Die Postkarte» ist deshalb nicht nur ein packendes, sondern vor allem auch ein wichtiges Buch.

Anne Berest: Die Postkarte. Roman. Berlin-Verlag, 544 Seiten, 39.50 Franken; ISBN 978-3-8270-1464-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783827014641

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 30. August 2022, Matthias Zehnder

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