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Die Passage nach Maskat

Publiziert am 15. September 2022 von Matthias Zehnder

Cay Rademacher ist bekannt für seine Provence-Krimis: Schon in neun Fällen ermittelt der Autor im südlichen Frankreich der Gegenwart. In seinem letzten Provence-Krimi verarbeitet er sogar die Covid-Krise. Sehr aktuell. Ganz anders das Setting in seinen historischen Krimis: Bisher dreimal hat er Oberinspektor Stave im zertrümmerten Hamburg der ersten Nachkriegsjahre ermitteln lassen. Mit «Die Passage nach Maskat» blättert Rademacher noch weiter zurück in die Vergangenheit: Sein neuster Krimi spielt 1929, im letzten Sommer der Goldenen Zwanziger Jahre. Noch tanzen die Menschen unbeschwert zu Jazz. Die Apotheken Berlins verkaufen Kokain und sorgen so dafür, dass sich das schnelle Leben in der Grossstadt weiter beschleunigt. Auch auf dem Ozeanliner Champollion, der von Marseille aus Richtung Orient in See sticht, spielt die Musik laut und die Passagiere geniessen den Luxus. Wenigstens die, die erster Klasse fahren. Unter ihnen befindet sich Theodor Jung, traumatisierter Kriegsveteran und Fotoreporter der Berliner Illustrierten, der auflagenstärksten Zeitschrift Europas. Doch die Reise wird für Jung zu einem Alptraum, den sich wohl Agatha Christie und Alfred Hitchcock gemeinsam ausgedacht haben. In meinem 121. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen, wenn Sie einmal mit der Lektüre begonnen haben. 

 

1929 ist das Jahr, in dem in Deutschland die Nachkriegsjahre nach dem Ersten Weltkrieg zu den Vorkriegsjahren des Zweiten Weltkriegs werden. Bloss weiss das natürlich noch niemand. Zu Beginn des Jahres brummt die Wirtschaft. In Berlin beantragen die Vereinigten Papierwerke Nürnberg den Schutz des Warenzeichens Tempo für das von ihnen produzierte Taschentuch. Erich Kästner publiziert den Kinderroman «Emil und die Detektive». In Deutschland regiert Reichsmarschall Paul von Hindenburg als Reichspräsident. Die Welt rast auf eine gigantische Wirtschaftskrise zu, aber im Sommer bemerkt das noch niemand. 

Noch schwelgt die Welt im Luxus. Die Röcke werden kürzer, die Tänze kesser, die Nasenflügel auch ehrbarer Damen mittleren Alters sind vom Kokain gerötet. Denn die Droge gibt es in Europa ganz legal in jeder Apotheke zu kaufen.

Theodor Jung trifft mit seiner Frau Dora in Marseille ein. Da soll er sich mit Doras Familie treffen und sich einschiffen. Die Familie Rosterg betreibt in Hamburg ein Handelshaus, H. Rostergs Spezereien & Cie., Import von Gewürzen aller Art. Dora führt den Berliner Ableger der Firma. Die Familie besteht neben Dora aus Hugo Rosterg, dem beleibten, aber keineswegs gemütlichen Patriarchen, seiner Frau Marthe Rosterg, Sohn Ernst Rosterg, schwul, SA-Mitglied und nicht der Hellste. 

«Der Senior wollte bis nach Oman reisen, wollte sich im Sultanat vielleicht Muscatnüsse sichern oder Weihrauchharz oder Nelken oder Pfeffer oder Kaffee, egal – wenn er es nur ja ballen-, kisten-, säckeweise kaufen konnte. Halb Europa hatte sich zerfleischt, war noch gar nicht so lange her, doch jetzt fraß die überlebende Hälfte den Erdball leer und machte Männer wie Hugo Rosterg dabei reich. Der Patriarch nahm Gattin, Sohn und Tochter auf die lange Reise nach Arabien mit, und selbstverständlich seinen unentbehrlichen Prokuristen Lüttgen. Für Jung allerdings war kein Platz an Bord vorgesehen gewesen.
Doch Jung wollte Dora nicht allein in die Ferne ziehen lassen, weil er spürte, dass er sie für immer verlieren würde; um ihre Ehe stand es schon lange schlecht. Also hatte er Schriftleiter Korff überzeugt, es war gar nicht schwer gewesen: eine Reise nach Arabien, die Mysterien des Orients, der Suezkanal, das Tal der Könige, wo Howard Carter noch immer Tutanchamuns Schätze barg. Und Maskat – der duftende Suk, in dem die Gewürze der Welt gehandelt wurden. Es war das Jahr 1929, verdammt, der Krieg war bereits halb vergessen, an der Börse regnete es Geld, der Jazz regierte die Welt, und die Berliner Illustrierte brachte die besten Fotoreportagen, also hatte Jung den Auftrag bekommen.» (S. 15)

Theodor Jung reist jetzt also als Fotoreporter mit nach Maskat. Lüttgen ist nur zwei Jahre jünger als er, aber die beiden trennen Welten. Jung war noch im Krieg gewesen, Lüttgen nicht. Jung schreckt nachts aus seinen Träumen auf, Lüttgen schläft traumlos. Er ist ehrgeizig und will nicht Prokurist bleiben. Er will die ganze Firma leiten und das am liebsten als Schwiegersohn. Lüttgen sieht aus wie ein Automatenmensch aus einem Film von Fritz Lang und er geht aggressiv gegen Jung vor. Er will dafür sorgen, dass er gar nicht erst an Bord geht – oder Maskat nicht erreicht. Oder zumindest nicht lebend.

Jung ist also gewarnt und entsprechend vorsichtig. Erst recht, als er auf dem Deck der Dritten Klasse Max Totzke, genannt «Maxe», begegnet, einem ehemaligen Preisboxer, wie man ihn sich vorstellt: Gebrochene Nase, eine Stirn wie die eines Neandertalers, kleine, böse hellblaue Augen, dünnes blondes Haar. Maxe ist Schuldeneintreiber im Ringverein Immertreu, der mächtigsten kriminellen Organisation der Hauptstadt. Was der wohl an Bord sucht?

Doch es kommt anders, als Theodor Jung denkt und befürchtet. Was in der Anlage etwas nach Agatha Christie und «Mord auf dem Nil» tönt, verwandelt sich noch vor der Einfahrt in den Suezkanal in eine Geschichte, die aus der Feder von Alfred Hitchcock stammen könnte und eher an «The third Man» erinnert: Theodor Jungs Frau Dora verschwindet. Und sie verschwindet nicht nur, es will sie auch niemand vorher auf dem Schiff gesehen haben. Die Familie ist erstaunt, als er nach seiner Frau fragt: Die sei doch in Berlin geblieben. Auch die Besatzung weiss von nichts. Jung beginnt an sich selbst zu zweifeln. Er nimmt regelmässig ein starkes Schlafmittel, mit dem er sich die Alpträume fernzuhalten versucht, die ihn seit seinem Kriegseinsatz als U-Boot-Soldat quälen. Jetzt fürchtet er, das Schlafmittel mache ihn langsam wahnsinnig. Eine einzige Person bestätigt ihm, dass seine Frau an Bord gewesen ist: Fanny Philip, die Kabinenstewardess der Ersten Klasse. Sie wird zu seiner Verbündeten auf der Schiffsreise. Jung ist klar: Wenn er es nicht schafft, das Rätsel um seine verschwundene Frau zu lösen, dann wird ihm der scheinbare Mord an seiner Frau angehängt und er wird das Schiff in Maskat dem Tod geweiht als Häftling verlassen. Wenn überhaupt.

Cay Rademacher erzählt also eine spannende Geschichte – und er erzählt sie gut. Nicht nur, was den Suspense angeht, sondern auch in Bezug auf das historische Setting, das Rademacher mit grosser Detailtreue schildert. Bei Rademacher hört und sieht man die Vergangenheit nicht nur, man riecht und schmeckt sie auch. Etwa, wenn er das Schiff beschreibt, die Champollion, ein eleganter Dampfer der Messageries Maritimes, 1925 gebaut, also vier Jahre alt. Der Rumpf mehr als hundertfünfzig Meter lang, schlank und schwarz, der Bug scharf wie eine Messerklinge. Die Handlung spielt natürlich vor allem in der luxuriös ausgestatteten ersten Klasse, aber Jung wäre nicht Reporter, wenn er nicht ab und zu auf anderen Decks anzutreffen wäre, was Rademacher Gelegenheit gibt, andere Milieus zu schildern. Oder der Besuch bei Howard Carter, dem berühmtesten Archäologen der Welt, der im Tal der Könige gerade daran ist, das Grab des Tutanchamun auszugraben. An Bord des Schiffs befindet sich ein amerikanischer Geologe, der in den Irak reisen will. Denn man sagt, dass die Wüsten Arabiens voller Öl sei. Patriarch Rosterg kann darüber nur den Kopf schütteln. Er setzt auf ganz andere Stoffe aus Arabien. 

Rademacher führt uns auf diese Weise im Kleinen vor Augen, wie die grosse Welt daran ist, in ein neues Zeitalter einzutreten. Ins Zeitalter des Öls, des Flugzeugs und des weltumspannenden Handels, aber auch ins Zeitalter des Faschismus und des Antisemitismus. Und das in Form einer spannenden Geschichte, die man, einmal darin eingetaucht, kaum mehr aus der Hand legen kann.

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat. Kriminalroman. DuMont, 368 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-8321-8197-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832181970

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 15. September 2022, Matthias Zehnder

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