Video-Buchtipp

Nächster Tipp: °C – Celsius
Letzter Tipp: Tödlicher Schlaf

Die Netanjahus

Publiziert am 4. April 2023 von Matthias Zehnder

Ironisch, lustig, intelligent, hintergründig: Das ist das neue Buch von Joshua Cohen. «Die Netanjahus» heisst es. Wenn Ihnen jetzt der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu einfällt, liegen sie nicht ganz falsch: Der Roman handelt von einem Besuch von dessen Vater in den USA: Im Winter 1959/60 hat Benzion Netanjahu sich um eine Professur an einer amerikanischen Uni beworben. Im Buch muss sich Historiker Ruben Blum um den Gast aus Israel kümmern. Logisch: Blum ist der einzige Jude an der Universität. Weil Benzion Netanjahu gleich seine ganze Familie mitschleppt, wird Blum unfreiwillig zum Gastgeber des heutigen israelischen Ministerpräsidenten. Die Netanjahus fallen in Blums Haus ein wie eine biblische Plage. Der Roman ist voller hintergründiger Anspielungen. Wer sich ein bisschen auskennt in jüdischer Geschichte, kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus. Allerdings bleibt einem manchmal wie in einem Film von Woody Allen das Lachen auch im Hals stecken. In meinem 148. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum Sie auch dann lachen können, wenn sie keine Ahnung von den Hintergründen haben.

Dieses Buch ist Harold Bloom gewidmet. Bloom war einer der bekanntesten amerikanischen Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker. Er lehrte als Professor an der Yale University. Joshua Cohen hat er eine Erinnerung hinterlassen: Er hat ihm vom Besuch des Historikers Benzion Netanjahu erzählt. Bloom hatte den Historiker samt Familie im Auftrag seines Dekans im Januar 1960 beherbergt. Bemerkenswert ist das, weil es sich bei Benzion Netanjahu um den Vater des amtierenden israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu handelt.

Im Buch wird aus dem realen Literaturwissenschaftler Harold Bloom der fiktionale Historiker Ruben Blum. Er ist der Erzähler der Geschichte. Gleich auf der ersten Seite stellt er klar, dass er zwar ein jüdischer Historiker sei, aber kein Historiker der jüdischen Geschichte. Blums Spezialgebiet ist die Geschichte der Steuern und der Einfluss der Steuergesetze auf historische Entscheidungen. Blum gibt auch gleich zu, dass er sich das Gebiet nicht wirklich ausgewählt habe, es sei einfach das, was von der Geschichte für ihn übrig geblieben sei:

«Als ich in die akademische Welt eintrat, war Amerika bereits überfüllt, selbst Amerikanische Wirtschaftsgeschichte war drangvoll, und ich konnte immer ganz gut mit Zahlen umgehen. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Steuern wies mir den Weg aus dem Ghetto der kolonialen Katallaktik und schliesslich sogar aus Amerika selbst hinaus, hinein in die europäischen Stadtstaaten, feudale Steuerpacht, den Kirchenzehnt, die antike Entwicklung von Zöllen und Abgaben … bis zurück zum Stein von Rosette und sogar zur Bibel, die beide – was die meisten Menschen vergessen – im Wesentlichen bloss Steueraufzeichnungen sind.» (S. 9)

Dass ausgerechnet der einzige jüdische Historiker an der Uni sich mit der Geschichte von Zoll und Steuern beschäftigt, ist natürlich ein ironischer Verweis auf jüdische Geldwechsler, die sich auch nur mit Geld beschäftigten, weil ihnen die Christen kein anderes Feld übrig liessen. Sie erkennen daran die Art des Humors von Joshua Cohen.

Ruben Blum versucht zwar, sich mit aller Kraft zu assimilieren, fällt aber genau deshalb immer stärker als Jude auf. Weil er der einzige Jude ist im Lehrkörper der Universität, beruft ihn der Dekan in die Kommission, die eine Bewerbung des israelischen Historikers Benzion Netanjahu beurteilen soll. Zunächst verbeisst sich Blum in die akademischen Arbeiten von Benzion. Und wundert sich über dessen Bewertung der spanischen Inquisition, die mit historischer Wissenschaft nicht viel zu tun hat.

Dann kommt es zur persönlichen Begegnung. Benzion bringt gleich seine ganze Familie mit zum Bewerbungsgespräch, so wird Blum unfreiwillig zum Gastgeber von Benzion, seiner Frau und ihrer drei wilden, ungehobelten Söhne. Und damit wird es vollends chaotisch. Der Besuch wird zum eloquent auserzählten Bild für die Stellung der Juden in der amerikanischen Gesellschaft, für das Ringen der amerikanischen Juden um Anerkennung und Erfolg und ihrer zwiespältigen Beziehung zu Israel. Ganz nebenbei liefert Cohen eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Zionismus und den Folgen davon, als die Juden es endlich schafften, einen eigenen Staat zu gründen.

Eigentlich ist der Besuch der Netanjahus nur ein kurzes Ereignis an einem kalten Abend im Winter 59/60. Cohen beschreibt den Besuch aber so episch und elegisch und schweift dabei so genüsslich ab, dass daraus ein ganzer Roman wird, ein ironisch-sarkastisches Porträt des jüdisch-amerikanischen Lebens in der halb-ländlichen Kulisse eines College. Und wenn Sie all die historischen Bezüge nicht interessieren, dann bietet Ihnen Joshua Cohen einfach einen turbulenten College-Roman im jüdischen Milieu, der so gut ist, dass er dafür sogar den Pulitzer-Preis erhalten hat. Eine Art Woody-Allen-Film in Buchform.

Joshua Cohen: Die Netanjahus. Roman. Schöffling Verlag, 288 Seiten, 35.50 Franken; ISBN 978-3-89561-624-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783895616242

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 4. April 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/