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Die Jagd

Publiziert am 23. März 2022 von Matthias Zehnder

Mit Entsetzen schauen wir in die Ukraine und sind fassungslos darüber, wie unbarmherzig die russische Armee die ukrainische Zivilbevölkerung in Grund und Boden bombt. Und wir fragen uns: Wie kann Russland, wie können die russischen Politiker, wie kann die russische Bevölkerung das zulassen? Warum unternehmen die Oligarchen nichts? Antworten auf diese Fragen gibt der belarussische Schriftsteller Sasha Filipenko: Sein neuer Roman «Die Jagd» erzählt die Geschichte eines Journalisten, der einem Oligarchen zu nahe kommt. Filipenko beschreibt in seinem Roman eine Gesellschaft, die bis in den Kern zerrüttet ist. Das macht er auf höchst kunstvolle und, ja: unterhaltende Weise. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen, was wir aus dem Roman von Sasha Filipenko über Russland im Ukraine-Krieg lernen können.

 

Wladimir Slawin ist das, was wir einen Oligarchen nennen: Er ist sagenhaft reich und gut mit der Staatsmacht vernetzt. Er besitzt in Südfrankreich mehrere Immobilien und eine Jacht, die so gross ist, dass sie über einen Helikopter-Landeplatz verfügt. Wladimir Slawin arbeitet in Moskau, seine Familie, Ehefrau Tatjana Slawina und seine Kinder, lassen es sich in Südfrankreich gut gehen. Der Roman beginnt damit, dass ein russischer Journalist einen Artikel über Slawin schreibt. Der Journalist hat etwas herumgeschnüffelt und beschreibt Immobilien in ebendiesem Südfrankreich, die Slawin gehören. Slawin muss sich im Fernsehen äussern – die Familie schaut ihm in Südfrankreich dabei zu.

«Sie hören dem Vater schweigend zu, aufmerksam wie sonst nie. Papa prognostiziert den unvermeidlichen Zusammenbruch der Konsumgesellschaft, konstatiert die Ineffizienz der Demokratie und besteht auf der Notwendigkeit, die Welt auf Basis orthodoxer Prinzipien zu verändern. Auf eine Frage der Journalistin (einer äussert hübschen und fatal dummen Interimsgeliebten eines Ministers) verkündet Papa, er fürchte keine Sanktionen, verfüge über keinerlei Immobilien im Ausland, sein einziger Reichtum sei das heilige Russland. Die Kinder lachen.» (S. 8) 

Zum Entsetzen seiner Familie beordert Lewin Frau und Kinder zurück nach Moskau. Sie müssen an die Seite des Vaters stehen und dessen Patriotismus beweisen. Vor allem Sohn Alexander ärgert sich. Er will in Frankreich bleiben und da Fussball spielen. Schliesslich hat ihm sein Vater einen Platz in einer südfranzösischen Fussballmannschaft gekauft. Und dann hat er sich auch noch verliebt. Der junge Mann heisst Sébastien. Doch der Vater kennt keine Gnade: Die Familie muss nach Moskau reisen. Er hat ihnen sogar verboten, dafür den Jet zu nehmen. So müssen sie mit der First Class eines normalen Linienflugs Vorlieb nehmen. Das Flugzeug ist nur zur Hälfte besetzt. Trotzdem irritiert sie die Anwesenheit der anderen Menschen. Die Rückkehr wird damit begründet, dass Sohn Alexander zu einem Moskauer Fussballklub gewechselt hat. Dafür hat Papa inzwischen gesorgt. 

Der Journalist, der es gewagt hat, dem mächtigen Wladimir Slawin auf die Füsse zu treten, ist Alexander Quint. Er ist jung, begeistert von seiner Arbeit und soeben Vater geworden. Er lebt mit seiner Frau Arina und dem neu geborenen Töchterchen in einer Wohnung in Moskau. Er schreibt weiter über den Oligarchen und sein Vermögen – und kriegt Probleme. 

Der Gegenspieler des naiv-ehrlichen Journalisten Alexander Quint ist ein anderer Journalist, der auf die Seite der Bösen gewechselt hat. Er heisst Lew Smyslow. Im Buch erfahren wir, wie ein angepisster Oligarch mit einem missliebigen Journalisten umspringt, weil Smyslow das seinem eigenen Bruder beichtet, der als Cellist gerade in Lugano gastiert. Smyslow erzählt ihm: «So jemanden muss man unter Druck setzen, ihm erklären, dass er sich ein bisschen übernommen hat. Was haben sie früher in solchen Situationen gemacht? Verhöre, Druck, Unterredungen – und der Mensch war verschwunden. Manchmal, wenn so einer ernsthaft Probleme machte, haben sie ihn auch weggeräumt. Methoden gibt’s da mehrere: ein LKW an der Kreuzung, eine Kugel in den Kopf, Gift, ein Sturz aus einem vergitterten Fenster während eines Verhörs. Jetzt sind eher Grasfresserzeiten, ohne besondere Notwendigkeit oder fatale Interessenkollisionen legt man niemanden um. Es kann natürlich vorkommen, aber meistens versuchen wir es auf die sanfte Tour: die Nieren verkloppen, ein paar Finger brechen.» 

Dabei wird nicht etwa der Staat aktiv, sondern die Organisation des Oligarchen, die selbst, sagen wir: journalistisch tätig ist. Denn auch mit Hilfe von Artikeln und Postings wehrt sich der Oligarch gegen missliebige Politiker, Oppositionelle und Journalisten. Das alles immer mit einem patriotischen Duktus. 

Lew Smyslow erzählt seinem Bruder: «Was auch immer im Land passiert, wie sehr die Staatsmacht auch pfuscht, meine Kommentare stellen klar, dass an allem die USA schuld sind. Das ist auch schon das ganze Leitmotiv meines Jobs. Kein Knochenjob, sondern – seien wir ehrlich – Pipifax. Amerika ist die Rechtfertigung für alles Übel der Welt. Ganz egal, ob sich die Tragödie in Murmansk oder Jekaterinburg abspielt – an allem sind nur die verdammten Scheissamis schuld. In einem Geburtshaus bei Tula fressen Ratten ein Baby, in Kasan vergewaltigt ein Polizist einen Häftling mit einer Flasche – wer ist schuld? Natürlich Amerika!»

So kriegt der brave Journalist Alexander Quint die geballte Macht des Oligarchen zu spüren. Ehe er es sich versieht, demonstriert der Mob vor seinem Fenster gegen ihn als pädophilen, amerikanischen Agenten. Denn bei den Leuten kommen die Schmuztkampagnen gut an. Das ist nicht das kritische, aufgeklärte Publikum, das wir aus dem Westen kennen. Alexander, der Sohn des Oligarchen, beschreibt es in einem Brief an seinen Freund Sébastien so: «Die Leute sprechen mehrheitlich in Parolen, die sie tags zuvor im Fernsehen aufgeschnappt haben. Es ist nicht üblich, Informationen zu verdauen. Man hört etwas, findet es gut, wiederholt es!» (S. 85)

Lew Smyslow, der böse Gegenspieler unseres Journalisten, erzählt seinem Bruder, dass ihm die Arbeit als journalistischer Troll sogar gefallen habe: «Nach meinem Redakteursposten ist das alles ziemlich einfach und unterhaltsam obendrein, Das ist, wie die Dicke in der Klasse fertigzumachen. Eigentlich ist sie dir scheissegal, im Grunde deines Herzens weisst du sogar, dass es gemein ist, Fettsäcke zu mobben, aber weil es so lustig ist, machst du weiter. Verwerflich? Ja, vielleicht verwerflich, aber na und? Das Mädchen haben alle bald vergessen, die Klasse findet schnell ein neues Opfer, aber dich behalten sie in Erinnerung als obercoolen Macker.» 

Es sind diese Stellen, die wohl mehr über den Zustand von Russland, seiner Gesellschaft und den Troll-Medien sagen, als so manche Analyse in einem Nachrichtenmagazin. Sie machen verständlich, wie sich eine Bevölkerung auf das Spiel der Oligarchen einlassen kann. 

Es ist klar, dass es dem wackeren Anton Quint, der gegen die Oligarchen kämpft wie weiland Don Quijote gegen die Windmühlen, schlecht gehen wird. Es wird ihm dabei kein Haar gekrümmt. Aber er wird wörtlich in den Wahnsinn getrieben. Möglich ist das, weil die Wahrheit in Russland niemanden interessiert. Es gilt kaum verhüllt das Recht des Stärkeren. Die Gesellschaft hat ihr Rückgrat schon lange verloren. Schliesslich wollen die Menschen essen und wenn möglich auch noch etwas trinken. Und bekanntlich kommt zuerst das Fressen und dann die Moral.

Wie hellsichtig Filipenko die russische Gesellschaft beschriebt, lässt sich an einem Gerichtsverfahren ablesen, das im Roman vorkommt. Vor Gericht steht ein Blogger, er muss sich für ein Posting verantworten. Die Nachricht aber war leer. Der Blogger wird also angeklagt, weil er eine leere Nachricht veröffentlich hat. Als Geschädigte tritt eine Gruppe von Gläubigen auf. Ihr Sprecher argumentiert, die Spitzfindigkeit des Bloggers habe sie verletzt. Er habe wohl gedacht, wenn er eine leere Nachricht publiziere, dann «verstehen wir nicht, dass er sich gezielt über uns lustig macht, aber wir lassen uns nicht für dumm verkaufen. Wir haben sofort verstanden, dass dieser Schuft unseren Glauben verspottet.» Im Buch ist das eine absurde Episode, die Medienzensur wird auf die Spitze getrieben. Doch die Realität in Russland hat die Farce längst eingeholt: Auf Russlands Strassen werden dieser Tage Menschen verhaftet, die mit einem leeren Blatt Papier in der Hand auf der Strasse protestieren. 

Sasha Filipenko ist mit «Die Jagd» also ein hellsichtiger Roman über die russische Gesellschaft gelungen, über Oligarchen, Trollnetzwerke und die Willkür in einem Staat, der eigentlich gar nicht existiert, sondern als Clanwirtschaft auf den grösstmöglichen Nutzen von einigen wenigen ausgerichtet ist.  

Sasha Filipenko ist in 1984 in Minsk, also in Belarus, geboren. Er engagiert sich seit Jahren mit literarischen Mitteln im Kampf gegen die Herrschaft von Alexander Lukaschenko in seiner Heimat. Filipenko kennt aber auch Russland von Innen: Er hat in St. Petersburg Literatur studiert und als Journalist, Drehbuchautor und Gag-Schreiber für eine Satireshow gearbeitet. 2020 hat er St. Petersburg verlassen und hält sich seither an wechselnden Wohnorten in Westeuropa auf. Ursprünglich wollte  Filipenko Musiker werden. Das sieht man seinem Roman an: Er ist gebaut wie eine Sonate mit Einleitung, Exposition, Hauptsatz, Durchführung und allem was dazugehört. Auch diese Konstruktion macht den Roman trotz seines stellenweise düsteren Themas zu einem Buch, das nicht nur intelligent, sondern auch unterhaltend ist. Übersetzt hat den Roman übriges 

Sasha Filipenko: Die Jagd. Roman, übersetzt aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes Verlag, 288 Seiten, 31 Franken; ISBN 978-3-257-07158-0

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257071580

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 23. März 2022, Matthias Zehnder

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