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Die Geschichte von Kat und Easy

Publiziert am 29. Juni 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Die Geschichte von Kat und Easy» von Susann Pásztor.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

Kat und Easy sind 16, sie sind beste Freundinnen und sie haben sich viel vorgenommen für das neue Jahr. Es ist das Jahr 1973. Willy Brandt ist Bundeskanzler, Pink Floyd und Uriah Heep spielen die Musik der Stunde und im Jugendzentrum von Laustedt kreisen Joints so selbstverständlich wie Bierflaschen. 

Laustedt gibt es nicht und doch zu Dutzenden: Es ist die sprichwörtliche Stadt in der Provinz mit einem Gymnasium, einem Jugendzentrum, Eltern, die sich gegenseitig kennen und Jugendlichen, denen der Ort zu eng ist und doch Heimat.

Kat und Easy, die eigentlich Isi heisst, aber von Kat in Easy umgetauft worden ist, Kat und Easy also haben sich viel vorgenommen für das neue Jahr. Ein richtiges Konzert, einen Joint, und Sex, natürlich. Doch dann kommt alles anders. Denn Kat und Easy verlieben sich. Dummerweise in denselben Mann. 

Fast fünfzig Jahre später treffen sich Kat und Easy wieder auf Kreta. Beide sind jetzt Anfang 60. Kat betreibt einen erfolgreichen Lebenshilfe-Blog, ist geschieden und hatte nie Kinder. Easy hat drei Kinder von drei unterschiedlichen Männern, lebt trotzdem allein und ist immer noch – ja: easy. 

Kat und Easy sind sich immer noch sehr ähnlich. Sie kennen sich sofort wieder, obwohl sie sich seit jenem Jahr 1973 nicht mehr gesehen haben. 

«Das Jahr mit Easy war eines der wichtigsten meines Lebens gewesen und bestimmt auch eines der aufregendsten, aber ich hatte nie das Verlangen gehabt, sie wiederzusehen. Ich hatte auch kein Verlangen nach Geschichten, die mit Weisst-du-noch oder Was-ist-eigentlich-aus-XY-geworden anfingen, und es war zu befürchten, dass Easy genau solche Geschichten mit mir teilen wollte.» (S: 31)

Doch der eigentliche Grund, warum Kat Easy fast 50 Jahre lang aus dem Weg gegangen war, ist das, was 1973 wirklich geschah. Der Mann, in den sie sich damals beide verliebt und mit dem sie beiden zum ersten Mal Sex gehabt hatten, dieser Mann war 1973 tödlich verunglückt. Und Kat und Easy haben ganz unterschiedliche Erinnerungen daran.

Susann Pásztor erzählt die Geschichte von Kat und Easy mit leichten Worten, aber immer präzise und mit einem wunderbar lakonischen Humor. Immer abwechslungsweise spielt ein Kapitel im Laustedt von 1973 und auf Kreta in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist dabei aus neutraler Perspektive mit Blick über die Schultern von Kat erzählt, die Gegenwart aus der Ich-Perspektive von Kat. 1973 ist die zentrale Frage: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? In der Gegenwart lautet die Frage: Was bin ich geworden? Bin ich das wirklich – oder mach ich mir etwas vor?

Genau deshalb geht das Buch uns alle an.

Sicher kennen Sie «Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera. Die Geschichte handelt von einem Liebespaar, von Chirurg Tomas und Fotografin Teresa. Tomas nimmt das Leben leicht, vieles gelingt ihm, er hat Dutzende von Affären, die er alle auf die leichte Schulter nimmt. Teresa nimmt das Leben schwer, sie misst auch kleinen Dingen Bedeutung zu, sie leidet unter den Affären von Tomas.

Als ich «Die Geschichte von Kat und Easy» las, musste ich immer wieder an «Die Unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera denken. Kat gibt sich zwar cool und wissend, nimmt das Leben aber schwer und misst auch kleinen Dingen Bedeutung zu. Kat hat die Macht, Wörter zum Leuchten zu bringen und Räume mit Wut zu verpesten. Deshalb hat sie auch die Macht, Isi in einen anderen Menschen zu verwandeln. Aus Isi macht sie Easy. 

Easy nimmt die Dinge hin und die Menschen an, staunt über sie und verzeiht ihnen sofort. Sie will keine Macht und lässt sie Kat. In Kats Gegenwart führt die strebsame Isi ein neues Leben als Easy. 

«Zu Easys neuem Leben gehört eine Liste mit Dingen, die es schleunigst zu erleben gilt: rauchen, trampen, die Namen von allen Rockbands kennen, Alkohol, Sex, zu Konzerten von allen Rockbands gehen, kiffen und Strippoker.» (S. 13)

Eigentlich stammt die Liste von Kat. Aber Easy setzt sie um (bis auf den Strippoker). Easy heisst also nicht nur so. Eigentlich ist sie naiv und unerfahren, sie nimmt das Leben aber leicht, bald huscht sie von einem Bett ins nächste und lebt wie ein richtiges Hippie-Mädchen zwischen Joints und Trips und Sex und Rock’n’Roll.

Entscheidend dabei ist, dass sich die beiden Mädchen gegenseitig etwas vormachen. Kat gibt die coole, abgeklärte Wissende. Sie redet über Sex, wie wenn sie alles schon erlebt hätte, dabei hat sie ihr ganzes Wissen nur aus Büchern und Zeitschriften. Easy will ihr nicht nachstehen und stürzt sich ihr hinterher ins Leben. Weil Kat in Wahrheit gar nicht so abgeklärt ist, wie sie redet, und vieles, von dem sie erzählt, noch gar nicht erlebt hat, ist Easy ihr rasch meilenweit voraus.

So war das nicht nur 1973, so ist es auch heute:

«‹Ich wäre jedenfalls immer noch gern wie du›, sagte Easy, und es kam so unerwartet, dass ich stehen blieb.
‹Ach komm, das wolltest du doch nie wirklich›, sagte ich. Es klang wenig überzeugend. Ich hätte zu ihr sagen müssen, hör entweder sofort auf damit oder mach wenigstens was Ironisches draus. Wir gingen weiter.
‹Und ob ich das wollte. Du warst meine grosse, starke Schwester, die bei allem durchblickte. Du erinnerst dich doch noch an meine Liste? Die bestand nur aus Sachen, vor denen ich Schiss hatte, alle wussten das, nur vor dir habe ich behauptet, ich wäre ganz heiss drauf.›»

Nein, mit über sechzig können sich Kat und Easy nicht mehr viel vormachen. Zumal Easy herausgefunden hat, dass hinter dem berühmten Lebenshilfeblog «Mockingbird» ihre Kat steckt. Also schreibt sie ihr, ebenfalls unter Pseudonym. Aber «Mockingbird»-Kat merkt sofort, dass hinter dem Pseudonym «Ich-wills-wissen» Easy steckt. So eröffnet sich in der Gegenwart eine zweite Dialogebene zwischen den beiden Frauen: Sie reden nicht nur bei flackerndem Teelicht auf der Terrasse des baufälligen Hauses in Kreta miteinander, sondern, ohne darüber zu sprechen, auch unter Pseudonym auf dem Blog von Mockingbird.

Mit der Vergangenheit gehen sie ganz unterschiedlich um. Kat ist aus Laustedt geflüchtet, Easy ist nach Laustedt zurückgekehrt und lebt jetzt da.

«‹Wie ist das eigentlich, in Laustedt zu leben? Begegnet man da nicht ständig seiner eigenen Vergangenheit?›
‹Überhaupt nicht. Laustedt ist immer Gegenwart. Das, was mal unser Gymnasium war, ist jetzt die Schule, auf der meine Kinder Abi gemacht haben. Wie die Stadt in den Siebzigern ausgesehen hat, weiss ich schon gar nicht mehr. Ich glaube, das Problem mit der Vergangenheit hast nur Du.›» (S. 156)

Susann Pásztor erzählt nicht nur eine spannende Geschichte über zwei 16jährige Mädchen in den 70er Jahren, die sich mit 62 Jahren noch einmal begegnen. Mit der coolen, aber schweren Kat und der naiven, aber leichten Easy zeichnet sie zwei ganz unterschiedliche Möglichkeiten, mit der Vergangenheit und dem Leben umzugehen. Man fragt sich unwillkürlich: Und ich? Wie gehe ich um mit meiner Vergangenheit? Was habe ich aus meinem Leben gemacht – oder besser: was lässt sich aus einem Leben machen, das über eine Liste hinausgeht, auf der Dinge zum Abhaken stehen wie rauchen, die Namen von allen Rockbands kennen und Sex?

In ihrem letzten Posting als «Ich-wills-wissen» schreibt Easy:

«Ach, und ich habe heute noch etwas gelernt: Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich, oder?» (S. 269)

Es befreit uns nämlich davon, mit Listen, Trips und sich gegenseitig etwas vormachen jemand zu werden, den wir nicht sind. Das ist ungemein befreiend.

Susann Pásztor ist ein wunderbares Buch gelungen – auch deshalb, weil sie in den Textabschnitten über die 70er-Jahre die Zeit mit all ihren Gerüchen nach Dope und Miefigkeit und mit der Musik von Joni Mitchell bis Barclay James Harvest wiederaufleben lässt. Herrlich. 

Susann Pásztor: Die Geschichte von Kat und Easy. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-462-05281-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462052817

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 29. Juni 2021, Matthias Zehnder

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