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Die fünf spannendsten Bücher 2023

Publiziert am 29. Dezember 2023 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp, ein Buch, das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 50 Bücher waren es in diesem Jahr. Letzte Woche habe ich Ihnen die fünf besten davon vorgestellt. Jene fünf Titel, die ich als besonders wichtig, als besonders wertvoll, eben: als besonders gut erachte. Diese Woche geht es um «Page Turner», um Bücher, die vor allem eines sind: beste Unterhaltung. Ich habe die 50 Bücher noch einmal zur Hand genommen, noch einmal abgewogen und bewertet. Hier kommen Sie: Die fünf spannendsten Bücher des Jahres 2023, die ich Ihnen vor allem dann zur Lektüre empfehle, wenn Sie auf Schlaf verzichten können.

Was macht ein Buch spannend? Spannung, das ist die Erwartung des Lesers an den Text, sagt die Literaturwissenschaft nüchtern und blendet weisse Knöchel, Schnappatmung und schlaflose Nächte dabei aus. Die Erwartung entsteht durch ungleich verteilte Informationen. Im einfachsten Fall weiss man schlicht nicht, wie die Sache ausgeht und lässt sich überraschen: surprise! Alfred Hitchcock hat den Spiess manchmal umgedreht und seine ganz spezielle Form der Spannung dadurch erzeugt, dass der Zuschauer mehr wusste als die Protagonisten. Zum Beispiel weiss der Zuschauer, dass unter dem Tisch, an dem die Helden sitzen, eine Bombe tickt, aber die Helden wissen es nicht. Hitchcock nannte diese Form der Spannung Suspense. Manchmal haben beide, Held und Leser, zu wenig Informationen und machen sich gemeinsam auf die Suche nach des Rätsels Lösung. Das ist dann ein Mystery, wie man es von Krimis kennt. Surprise, Suspense und Mystery – gute Bücher mischen diese Spannungselemente so, dass sie einem den Schlaf rauben. Und manchmal ist gar nicht so klar, warum man ein Buch nicht aus der Hand legen kann. Aus den geplanten «nur noch zehn Seiten» taucht man 100 Seiten später auf, mit Nackenschmerzen zwar und eingeschlafenem Arm, aber glücklich.

Gibt es ein objektives Mass für diese Spannung? Es gibt eine ganze Reihe von Forschungen rund um die Psychologie des Suspense. Der wichtigste Punkt ist dabei die Beziehung zur Heldin oder zum Helden: Spannung entsteht, wenn ich mir Sorgen mache um die Heldin oder den Helden und nicht weiss, wie die Geschichte ausgeht. Wenn ich in diese selige Mischung aus Hoffnung und Zweifel gerate, die mich die Seiten verschlingen lässt. Besonders spannend sind für mich Geschichten, die vor einem realen Hintergrund spielen: Historische Romane oder Krimis in einem historischen Setting. Da wird aus der Hoffnung für den Helden oft eine Hoffnung wider besseres Wissen, weil man ja weiss, wie die Sache historisch ausgegangen ist.

#1 «Transatlantik» von Volker Kutscher

Ein gutes Beispiel für einen solchen Roman ist die Krimi-Serie von Volker Kutscher rund um Gereon Rath und Charlotte Ritter. Die Serie setzt 1929 in Berlin ein. Gereon Rath beginnt als Kriminalkommissar am Alexanderplatz in Berlin. Er stammt aus Köln, musste da aber nach einem tödlich verlaufenen Schusswechsel verschwinden. Seit diesem ersten Band ermittelt er im Morddezernat der Reichshauptstadt. Die Arbeit für die Polizei wird immer schwieriger, weil sie zusehends politisiert wird. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 werden selbst Mordermittlungen politisch gefärbt. Die ersten Folgen der Krimis von Volker Kutscher haben die Vorlage für die Fernsehserie «Babylon Berlin» gebildet. Der neuste Roman, es ist bereits der neunte der Serie, heisst «Transatlantik». Das Buch spielt im Jahr 1937. Seit vier Jahren sind nun die Nationalsozialisten an der Macht in Deutschland. Mehr und mehr legen sie das bürgerliche Mäntelchen ab. Die Kampfflugzeuge der deutschen Legion Condor greifen in den spanischen Bürgerkrieg ein und zerbomben die baskische Stadt Guernica. In Deutschland fürchten immer mehr Menschen, dass der Krieg auf ganz Europa übergreifen wird.

Auch Gereon Rath wurde in den Strudel von Politik und Gewalt hineingezogen: Im Rahmen einer Ermittlung am Rande der olympischen Spiele ist er in den Fokus der SS geraten und wurde erschossen. Offiziell wenigstens. Rath hat den Schusswechsel genutzt, um abzutauchen: Er ist nach Wiesbaden geflüchtet und arbeitet jetzt da als Weinlieferant. Für seine Frau Charlotte ist der Unterschied zwischen tot und abgetaucht klein: So oder so muss Charly ohne ihren Gereon auskommen. Quasi an seiner Stelle ermittelt sie in Berlin. Es geht um den Mord an einem SS-Offizier. Und zwar nicht um irgendeinen SS-Mann, sondern um Klaus von Rekowski, der monatelang in einer On-Off-Beziehung mit Greta liiert war. Und bei Greta wohnt Charly, seit Gereon tot ist.

Die Romanhelden, also Charlotte Ritter und Gereon Rath, sind beide rasch in grosser Gefahr. Das allein bietet Spannung. Doch das Buch von Volker Kutscher ist nicht nur auf den Plot fixiert, sondern gibt auch der Zeitgeschichte viel Raum. 1937 ist das in Deutschland vor allem die Nazifizierung der Gesellschaft. Volker Kutscher schildert eindrücklich, wie die Ideologie der Braunhemden langsam alles durchdringt und das gegenseitige Misstrauen in die Gesellschaft sickert. Kutscher macht das an kleinen, alltäglichen Details sichtbar. Es ist dies eine ganz andere Art der Spannung, die ich vor allem aus historischen Romanen kenne. Volker Kutscher macht auf diese Weise Geschichte erlebbar. Und das ist extrem spannend.

Volker Kutscher: Transatlantik. Der neunte Rath-Roman. Piper, 592 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-492-07177-2

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/transatlantik/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492071772

#2: «Kremulator» von Sasha Filipenko

Packend am Buch von Volker Kutscher ist seine detaillierte Beschreibung der Nazifizierung einer Gesellschaft. Sie lässt sich durchaus als Kommentar zur Gegenwart lesen. Diese Rolle der Geschichte als Kommentar zur Gegenwart spielt im Roman «Kremulator» von Sasha Filipenko eine grosse Rolle. Das Buch spielt 1941: Am 22. Juni überfällt die deutsche Armee die Sowjetunion. Mit beinahe 3,3 Millionen Soldaten greift die Wehrmacht ohne Kriegserklärung an. Hitler will den Erfolg seiner «Blitzkrieg-Strategie» im Osten fortsetzen. Am Tag nach dem Angriff verhaftet der Geheimdienst in Moskau über 1000 Menschen, angeblich alles Spione und Saboteure. Es sind nicht mehr viele übrig geblieben, die man noch verhaften könnte. Allein 1937 haben die Geheimdienste über 100’000 Menschen in der Sowjetunion verhaftet und erschossen. Jetzt, 1941, erwischt es auch Pjotr Iljitsch Nesterenko, 55 Jahre alt und Direktor des Moskauer Krematoriums. In seinen Öfen sind in den letzten Jahren alle «Staatsfeinde» gelandet – jetzt sitzt er selber im Verhör beim berüchtigten sowjetischen Geheimdienst NKWD in Saratow. Die Verhörprotokolle sind der Kern des neuen Romans von Sasha Filipenko. Es ist ein zynisch-sarkastischer Blick auf die Gewaltherrschaft eines Diktators.

«Alles in diesem Buch ist wahr – selbst das Erfundene.» Diesen Satz stellt Filipenko dem Roman als Motto voran. Er gibt den Ton vor: Das Buch oszilliert zwischen historischer Faktentreue und erfundener Münchhausiade. Wahr sind dabei vor allem die erfundenen Passagen. In Verhören mit dem Geheimdienst erzählt Nesterenko sein Leben. Es ist ein zerfleddertes Schicksal, in das im Verhör nur ein Geheimdienstoffizier Sinn hineinlesen kann. Der Roman erzählt mit schwarzem Humor und viel Sarkasmus die sowjetische Diktatur aus der Sicht des Krematoriumsbetreibers. Es ist ein bitterbös-schmissiger Roman, den man unbedingt auch als Kommentar zur Gegenwart lesen muss.

Sasha Filipenko: Kremulator. Roman. Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer. Diogenes, 304 Seiten, 34 Franken; ISBN 978-3-257-07239-6

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/kremulator/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072396

#3: «Blinde Tunnel» von Tove Alsterdal

«Transatlantik» und fast noch mehr «Kremulator» setzen eine historische Entwicklung ins Zentrum der Handlung. In Tove Alsterdals Krimi «Blinde Tunnel» ist das etwas anders. Auch in ihrem Roman spielt die Geschichte eine grosse Rolle, sie ist aber eher die Folie vor der sich die spannende Handlung in der Gegenwart abspielt. An der Oberfläche erzählt «Blinde Tunnel» die Geschichte einer Midlife Crisis. Sonja und Daniel haben ihr Reihenhaus in Stockholm verkauft und sind nach Böhmen ausgewandert. Hier in Tschechien haben sie ein altes Weingut gekauft und wollen einen Neuanfang wagen. Das Weingut ist wunderschön in einer Flussschlaufe gelegen und sieht richtig romantisch aus. Sonja macht im Städtchen neue Bekanntschaften, darunter die englische Anwältin Anna. Die erzählt ihr von der bewegten Geschichte der Region. Und dann liegt Anna plötzlich erschlagen unter einem Baum auf dem Weingut. Daniel wird verhaftet und verhört. Und Sonja gerät in einen Strudel von Ereignissen und sieht sich gefangen in der Geschichte: der persönlichen Geschichte mit Daniel und der furchtbaren Geschichte des Ortes. Denn der Ort liegt im Sudetenland – Hass und Verbrechen sind bis heute präsent.

Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte dieses Gebiet zur Tschechoslowakei. Das Land wurde 1918 gegründet. Es war einer der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns. Die Tschechoslowakei bestand aus Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und aus Karpatenrussland. Vor allem im Westen der Tschechoslowakei, also in Böhmen und Mähren, lebten viele deutschsprachige Menschen. Das waren die Sudetendeutschen. Sie stellten in der Tschechoslowakei 23 Prozent der Bevölkerung. 1938 nutzte Hitler die Spannungen zwischen den Sprachgruppen im Land als Hebel und forderte als Preis für den Verzicht auf einen Krieg das Sudetenland. Im September 1938 trafen sich die Führer von Deutschland, Italien, Grossbritannien und Frankreich in München und beschlossen ohne Beteiligung der Tschechoslowakei, das Sudetenland an Deutschland abzutreten. Nach dem Zweiten Weltkrieg drehte die Tschechoslowakei den Spiess um. Das Land entzog den Sudetendeutschen die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft und ihr Eigentum und vertrieb die Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Diese Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ist der historische Hintergrund, vor dem «Blinde Tunnel» von Tove Alsterdal spielt. Denn das Weingut in Böhmen, das Sonja und Daniel kaufen, um ihre Ehe zu retten, gehörte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einer sudetendeutschen Familie. Davon wissen die beiden allerdings nichts. Sie geraten in einen Strudel von Ereignissen und Verdächtigungen, aus dem sie sich nur retten können, indem sie den historischen Ereignissen auf den Grund gehen: dem Hass zwischen den Volksgruppen in der Tschechoslowakei. Bei der Lektüre des Buches wird einem klar, wie tief die Wunden sind, die solche Auseinandersetzungen schlagen.

«Blinde Tunnel» von Tove Alsterdal ist im Kindler-Verlag erschienen und das dritte meiner fünf spannendsten Bücher des Jahres.

Tove Alsterdal: Blinde Tunnel. Kriminalroman. Kindler Verlag, 352 Seiten, 31.50 Franken; ISBN: 978-3-463-00050-3

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/blinde-tunnel/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492063234

#4: «Celsius» von Marc Elsberg

Der Reiz von historischen Romanen ist das Spiel mit dem historischen Hintergrund: Wir wissen, wie das mit den Nationalsozialisten, der Sowjetunion oder mit den Sudetendeutschen ausgegangen ist. Die Helden wissen es nicht. Das führt zu Spannung. Ganz anders funktionieren Science Fiction-Romane: Zum einen spielen sie meist in der Zukunft, zum anderen handeln sie von neuen Technologien und Erfindungen. Diese Welt ist uns also völlig unbekannt. Hier entsteht Spannung vor allem durch die Überraschung, die das Unbekannte birgt. Ein Meister in dieser Art der Spannung ist Marc Elsberg. Bekannt wurde er mit «Blackout», einem Thriller über einen europaweiten Stromausfall und die Folgen, die es hat, wenn kein Strom zur Verfügung steht. Sein neues Buch heisst «Celsius» und ist ein Klimathriller. Die Geschichte verläuft aber ganz anders, als Sie denken. Hintergrund des Thrillers ist die Klimaerwärmung und eine neue Technologie, die es möglich macht, ins Klima der Erde einzugreifen. Genau dazu entscheidet sich China: Das Land will sich die Erwärmung des Mount Everest nicht länger gefallen lassen.

Alles beginnt damit, dass vor einem Flugzeug der Singapore Airlines auf dem Weg nach Taipeh auf Taiwan mitten über dem südchinesischen Meer plötzlich riesige, monströse Fluggeräte auftauchen. Passagiere filmen, wie die Fluggeräte nur knapp über und unter dem Flugzeug passieren. Sie sind schwarz, grösser als jedes Verkehrsflugzeug, haben sechs Flügel und kein Cockpit. Sind es UFOs? Attackieren Ausseridische? Oder greifen die Chinesen jetzt Taiwan an?

Der amerikanische Präsident wird in den Situation-Room geholt. Die Generäle wollen China angreifen. Über einen Vermittler erhält der Präsident Kontakt zu einer Klimawissenschaftlerin der UNO. Fay Oyetunde analysiert die Bilder und kommt zu einem anderen Schluss als die Generäle: Bei den riesigen Fluggeräten handelt es sich um Drohnen, die in der Lage sind, bis in die Stratosphäre aufzusteigen. Ihr Auftrag: Geoengeneering. Die Beeinflussung des Klimas. China will die Klimaerwärmung stoppen, indem die Drohnen im grossen Stil Aerosole in die Stratosphäre bringen. Da sollen die Stoffe die Sonne reflektieren und so die Erderwärmung bremsen.

Wie seine anderen Bücher auch besteht der neue Thriller von Marc Elsberg zur Hälfte aus korrekter Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, und zur anderen Hälfte aus Thrillerelementen, die das Buch zum Page Turner machen. Elsberg beherzigt dabei die Maxime von Friedrich Dürrenmatt: «Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.»

Das gilt für beide Hälften der Geschichte, also für das Klima-Szenario, wie für den Thriller-Teil. Denn China ist nicht die einzige Macht, die das Klima beeinflussen will. Das Resultat der Abkühlung ist zunächst, dass die Erdölindustrie noch mehr Erdöl fördert und die Menschen sich erst recht nicht mehr an Umweltauflagen halten wollen. Die Abkühlung selbst führt, wie die Erwärmung, zu Extremwetterereignissen. Und natürlich gibt es einen Bösewicht mit James Bond-Format (aber keinen rettenden James Bond). Amerikaner, Chinesen, Deutsche, Inder und verschiedene afrikanische Staaten verwickeln sich in eine epische Auseinandersetzung über das Weltklima. Der Begriff «Klimakrieg» bekommt dabei eine ganz neue Bedeutung. Bislang wurden Kriege wegen des Klimas geführt. Im Buch von Elsberg führen die grossen Mächte auf der Welt plötzlich Krieg um das Klima.

Das Packende an der Geschichte ist nicht nur die Story. Die ist spannend, zweifellos, Elsberg versteht sein Handwerk. Unter die Haut geht die Geschichte, weil die Bestandteile der Vision alle bereits vorhanden sind. Die Wirbelstürme in Europa, die Dürren und die Überflutungen in den USA, die Uneinsichtigkeit der Wirtschaft und der Politik, die Hilflosigkeit der Wissenschaft. Das alles kennen wir aus der Gegenwart nur zu gut. Marc Elsberg nimmt diese realen Puzzleteile und setzt sie zu einem dystopischen Bild zusammen. Einem Bild, das, wie die Vision vom grossen Stromausfall, durchaus Realität werden könnte.

Marc Elsberg: °C – Celsius. Thriller. Blanvalet, 608 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-7645-0633-9

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/celsius/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783764506339

#5: «Der Morgen» von Marc Raabe

Geschichte, Politik, Klima – gibt es auch Bücher, die einfach spannend sind? Die gibt es. Eines der besten Beispiele für einen Thriller, der einen spannenden Film im Kopf auslöst, ist «Der Morgen» von Marc Raabe. Die Stärke dieses Buchs ist das Bildhafte: Marc Raabe hat eigentlich kein Buch, sondern einen Film geschrieben. Dieser Film rollt beim Lesen im Kopf ab. Ganz ohne Spezialeffekte – und vielleicht gerade deswegen höchst effektvoll. Das beginnt schon mit der ersten Szene. Schneegestöber, früher Morgen, Berlin. Mitten im Kreisverkehr rund um die Siegessäule hält plötzlich ein Kleinlaster an. Ein Volvo Kombi kann nicht mehr bremsen und kracht in den Laster. Kunststück: alles eisglatt. Der Fahrer des Lasters steigt aus und flüchtet. Unter der Plane auf der Ladefläche des Lasters liegt die Frau des Gesundheitsministers. Nackt. Tot. Auf ihren Bauch hat jemand mit Blut eine Adresse geschrieben. Es ist die Privatadresse des Bundeskanzlers. Und das zehn Tage, bevor ebendieser Kanzler Gastgeber des G20-Gipfels in Berlin sein soll. Mit anderen Worten: Mehr Druck auf die Behörden geht nicht. Unter schärfster Geheimhaltung rollen die Ermittlungen an. Und dann veröffentlicht ein Onlineportal ein Film der Geschichte und die Hölle bricht los.

Kein Zweifel: Marc Raabe versteht es, maximalen Druck aufzubauen. Die tote Frau des Gesundheitsministers. Die mit Blut auf ihren Bauch geschriebene Privatadresse des Bundeskanzlers. Und das zehn Tage vor dem G20-Gipfel. Ein Onlineportal veröffentlicht nicht nur Bilder der Leiche, sondern auch die Privatadresse des Bundeskanzlers. Klar, dass das Haus sofort umstellt ist von Journalisten, Kameras und Mikrophonen. Der Fall ist so wichtig, dass der Präsident des Bundeskriminalamts Art Mayer zurück in den Dienst holt. Art ist zwar einer der besten Ermittler des BKA, aber er hat kürzlich dem Präsidenten des BKA die Nase gebrochen. Das ist zwar verständlich, weil der mit Arts Frau geschlafen hat, aber in den meisten Ämtern trotzdem ein Grund für fristlose Freistellung. Das Problem: Art Mayer will mit dem BKA nichts mehr zu tun haben. Dass er sich trotzdem breitschlagen lässt, in diesem seltsamen Fall zu ermitteln, hat mit einem Erlebnis zu tun, das weit zurückliegt. Es hat mit einer Grenze zu tun, die er selbst als Junge einmal überschritten hat. Und vielleicht hast es auch mit Nele Tschaikowski zu tun, einer jungen Kommissaranwärterin. Ihr Eifer erinnert Art wohl ein wenig an sich selbst. Aber da weiss er noch nicht, dass Nele die Nichte ebenjenes Polizeipräsidenten ist, dem er kürzlich die Nase gebrochen hat.

Das Thema des Buchs ist weder der Bundeskanzler, noch die deutsche Politik. Es sind die eigenen Grenzen und Angst. Das ist es letztlich, was das Buch lesenswert macht.

Marc Raabe: Der Morgen. Thriller. Ullstein, 592 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-86493-205-2

Hier gibts die ausführliche Buchbesprechung: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/der-morgen/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783864932052

Das waren meine fünf Tipps für schlaflose Nächte. Es ist natürlich eine persönliche Auswahl: Es sind jene fünf Bücher, die mich 2023 am meisten Schlaf gekostet und gleichzeitig den grössten Eindruck gemacht haben. Es ist eine Kombination, die im deutschen Sprachraum nach wie vor eher selten ist: Intelligente Unterhaltung. Ich werde auch nächstes Jahr als literarisches Trüffelschwein Bücher suchen, die ebenso intelligent wie unterhaltend sind. Wenn Sie meinen Kanal und meinen Newsletter abonnieren, bleiben Sie über meine Funde im deutschsprachigen Bücherdschungel auf dem Laufenden. Die Angaben dazu wie auch die Angaben zu allen Büchern finden Sie auf meiner Homepage. Jetzt wünsche ich Ihnen für das neue Jahr, was ich Ihnen immer am Ende meiner Buchtipps wünsche: Lesen Sie gut!

Basel, 29. Dezember 2023, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier: https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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Zum Thema Spannung: Alwin Fill: Das Prinzip Spannung. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen zu einem universalen Phänomen. Gunter Narr-Verlag: Tübingen 2003