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Die Dämmerung

Publiziert am 8. Mai 2024 von Matthias Zehnder

Vielleicht kennen Sie das: Sie essen keine Erdnüsse. Ganz bestimmt nicht. Also maximal ein, zwei Nüsschen. Und dann ist da dieser knusprige Biss und die salzige Würze und eh Sie sich versehen, ist die Schale leer. Manchen geht es so mit Chips. Mit Schokolade. Oder mit Popcorn. Marc Raabe schreibt Bücher, die sich für mich anfühlen, wie eine Schale Erdnüsse. Eigentlich habe ich keine Zeit. Nur einmal schnell reinschauen. Doch dann sind da Art Mayer und Nele Tschaikowski, die als Ermittler beim Bundeskriminalamt in Berlin arbeiten. Er hat eine Affäre mit der Frau des Bundeskanzlers, sie ist schwanger. Ende siebter Monat. Zusammen ermitteln sie in Sachen Mord. Charlotte Tempel, die Witwe eines Waffenfabrikanten und gefeierte Wohltäterin, ist im Wald gefunden worden. Tot. An einen Baum gebunden. Mit einem Hirschgeweih auf dem Kopf. Sie wollte immer den Hirsch. Den international bekannten Medienpreis. Jetzt hat sie ihn. In meinem 203. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, wie Marc Raabe das macht, dass man als Leser die Finger nicht von seinen Büchern lassen kann, bis sie ausgelesen sind. Wie die Schale mit den Erdnüssen.

Damit eine Thriller-Serie erfolgreich ist, braucht sie drei Dinge: natürlich eine packende Story, klar, aber auch interessante Figuren und eine Sprache, die mich als Leser in die Geschichte hineinzieht. Marc Raabe hat alle drei Dinge nur zu gut drauf. Das hat er schon mit der Serie rund um LKA-Kommissar Tom Babylon und Psychologin Sita Johanns bewiesen. Babylon war ein Bulle mit einem Knacks. Doch Kollegin Sita war keineswegs bloss der nette Sidekick, die Psychologin, die den Ermittler einhegt. Beide haben Schlimmes erlebt, beiden lasten die Erlebnisse nicht nur auf der Seele, auch ihre Fälle habendamit zu tun. Das ist auch bei Art Mayer und Nele Tschaikowski so. Das macht die Ermittler menschlich – und sorgt für eine Portion Unberechenbarkeit.

Der neue Fall, mit dem sich die beiden Ermittler beschäftigen, die Ermordung von Charlotte Tempel, konfrontiert Art und Nele mit dem eigenen Leben. Nele, weil sie, obwohl sie schon im siebten Monat ist, nicht sicher ist, ob sie das Kind wirklich will. Art, weil der Fall auch mit seiner eigenen Vergangenheit zu tun hat. Die Polizei hat sich schnell auf eine Verdächtige eingeschossen: Leo Tempel, die einundzwanzigjährige rebellische Tochter des Mordopfers. Sie ist Klimaaktivistin, also in den Augen von so manchem Polizisten etwas gestört. Und sie ist verschwunden. Doch Art und Nele glauben nicht an diese Theorie. Und dann wird ein weiteres Opfer gefunden.

Der Plot ist packend, die Figuren interessant. Was fehlt noch? Genau: die Sprache. Ginge es um Chips oder Erdnüsse, würde ich sagen: die perfekte Mischung aus salzig und crunchy. Kein langes Drumherum, sondern knackig und direkt. Genau so schreibt Marc Raabe. Zum Beispiel der erste Satz des ersten Kapitels: Das hier konnte nicht gut gehen. Jedenfalls nicht mehr lange. Aber war das ein Grund aufzuhören? Mich hat Marc Raabe damit sofort am Haken.

Das Schöne daran ist: Marc Raabe schreibt sparsam. Die schlimmste Sünde, die ein Krimiautor begehen kann, ist Geschwätzigkeit. Zu viele Beschreibungen, zu viele Erklärungen. Lexikon statt Film. Marc Raabe schreibt quasi nur, was auf der Leinwand zu sehen ist. Es gibt diese Faustregel: show, don’t tell – zeigen, nicht erzählen. Wenn Sie je eine Beispiel für das Einhalten dieser Regel suchen, dann nehmen Sie ein Buch von Marc Raabe zur Hand. Zum Beispiel die Eröffnung des zweiten Kapitels mit Nele und ihrem Lebenspartner Roman. Das Kapitel beginnt so:

«Das gefällt mir nicht», unkte Roman Hoff. «Du solltest dich schonen.»
«Mir geht’s gut. Ich bin schwanger und nicht krank», erwiderte Nele Tschaikowski gereizt.
«Andere Frauen lassen sich schon im vierten Monat krankschreiben. Du bist im achten. Und du willst da jetzt ernsthaft hin?»
Nele schürzte die Lippen und zog es vor, nicht zu antworten. Mit einem der Schlüssel an ihrem Bund öffnete sie den kleinen Waffenschrank im Flur und entnahm ihm die SIG-Sauer-Pistole und ihr Schulterholster. Der Gürtel mit dem Hüftholster passte ihr schon seit zwei Monaten nicht mehr. «Eine Woche noch», sagte sie und schloss den Schrank wieder. «Dann ist Ruhe, ich versprech’s.» (Seite 22)

Das ist direkt erzählt, ohne lange Erklärungen. Dass Roman seine Partnerin lieber zu Hause sehen möchte, sie aber nicht daran denkt, das Heimchen am Herd zu spielen, muss Raabe nicht sagen. Das merkt man beim Lesen. Auch wenn nicht alle Worte passen – unken bedeutet: Schlimmes voraussagen. Roman Hoff sollte also nicht unken, dass ihm das nicht gefällt, sondern erwidern, meckern, reklamieren oder es einfach sagen. Aber einen knusprigen Kartoffelchip legt man nicht auf die Kalorienwaage. Ein anderes Beispiel für die Erzählweise ist die Sache mit dem Diabetes von Art Mayer. So beginnt Kapitel 4:

Art zuckte bei dem scharfen elektronischen Ton in seiner Manteltasche zusammen, ebenso wie Nele, die mit ihm etwa fünf Schritte entfernt von der Frau mit dem Hirschgeweih stand.
«Was um Himmels willen ist das?», fragte Nele und sah ihn an.
«Nichts», knurrte Art. Er zog sein Handy aus der Manteltasche und warf einen Blick darauf. Blutzucker zu hoch, stand neben einem gelben Warnzeichen. Er öffnete die Diabetes-App, und der Alarm verstummte. Der Wert lag bei 189, Tendenz steigend. Art verzog den Mund, steckte das Handy wieder ein und betrachtete die Tote am Baum. Er spürte Neles Blick auf sich, die offenbar das Display gesehen hatte, ignorierte sie aber ebenso wie seinen zu hohen Blutzucker. Das hier war wichtiger.
«Dein Diabetes?», fragte Nele.
«Wenn ich meine Klappe halte», meinte Art und wies auf ihren Bauch, «dann tu du’s bei mir auch.» Er liess Nele stehen und ging die letzten Schritte zum Baum. (Seite 45)

Das ist nicht Goethe, aber gut erzählt. Wie in einem Film sehen wir die Szene vor uns. Den knurrigen Art, der mit seinem Diabetes kämpft, und die störrische Nele, die trotz Schwangerschaft weiterhin ermitteln will. Ergänzt sind die knapp geschriebenen Kapitel durch eingestreute Rückblenden und, ein interessantes Element, eine Tonbandaufnahme, die vor über zwanzig Jahren aufgenommen wurde. Sie entführt die Leserin, den Leser immer wieder in eine andere Gegenwart. Natürlich finden die verschiedenen Ebenen erst am Schluss zusammen.

Ist die Geschichte realistisch? Falsche Frage. Sie kaufen Chips und Nüsschen ja auch nicht aufgrund der Nährwertangaben auf der Packung. Wichtig ist: Wenn man einmal damit angefangen hat, das Buch zu lesen, kann man die Finger nicht mehr davon lassen, bis es ausgelesen ist. Und dann ist man nicht befriedigt, sondern gespannt, wie es mit Art Mayer und Nele Tschaikowski weitergeht. Die gute Nachricht: Es geht weiter. Die schlechte: Ende Februar 2025. Tja.

Marc Raabe: Die Dämmerung. Thriller. Ullstein, 512 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-86493-262-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783864932625

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. Mai 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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