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Die besten Bücher des Jahres 2022

Publiziert am 21. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp, ein Buch, das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 50 Bücher waren es in diesem Jahr. Jetzt ist es Zeit, Bilanz zu ziehen: Ich stelle Ihnen im Folgenden die fünf besten Bücher des Jahres 2022 vor. Das ist natürlich eine subjektive Wertung. Es gibt bestimmt weitere, sehr gute Bücher. Sagen wir also: Von den 50 Büchern, die ich Ihnen dieses Jahr empfohlen habe, sind es jene fünf Titel, die ich als besonders wichtig, als besonders wertvoll, eben: als besonders gut erachte. Ich habe für diese Auswahl alle Bücher noch einmal zur Hand genommen, noch einmal abgewogen und bewertet. Hier kommen Sie: Die fünf Bücher des Jahres, die Sie meiner Ansicht nach nicht verpassen dürfen.

1. «Die Erweiterung» von Robert Menasse

Ich stelle Ihnen jede Woche ein Buch vor, das «ebenso intelligent wie unterhaltend» ist. Ich suche dafür gut erzählte Geschichten. Bücher, die nicht nur von einem Plot leben, aber auch nicht nur aus einer literarisch-glänzenden Oberfläche bestehen, sondern beides miteinander verbinden. So wie «Die Erweiterung» von Robert Menasse. Fünf Jahre nach «Die Hauptstadt», seinem grossen Europaroman, hat Robert Menasse dieses Jahr eine Art Fortsetzung veröffentlicht. Wieder erzählt er seine Geschichte in Form eines Reigens, wieder kreuzen die unterschiedlichsten Menschen einander. Der Fokuspunkt der Geschichte ist diesmal nicht Brüssel, sondern die europäische Peripherie: Albanien. Das Land ist Beitrittskandidat der EU, der wilde Osten Europas, wo die Geschichten blühen wie einst im Wilden Westen.

Die Stärke des Romans sind seine Einzelteile: Im Kleinen erzählt Menasse höchst unterhaltsam Geschichten, die gleichzeitig tiefe Einblicke geben in die Verschiedenheit der europäischen Kulturen – und die Abgründe der Menschen, die sie bevölkern. Es steckt viel Politik im Roman, ich habe viel gelernt über Albanien und seine Geschichte. Die Stärke von Menasse ist aber, dass er die Politik am Kleinen erzählt, in Form von Geschichten. Der polnische Dissident, der an seinem Hund verzweifelt, der Wiener Kommissar, der einen Flug verpasst, weil er sich nicht von seinem geliebten Taschenmesser trennen will, der albanische Mediensprecher, dessen Haus zerfällt, weil die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind. Es sind diese Geschichten, die das Buch höchst unterhaltsam machen – nicht nur für Menschen, die sich für Politik interessieren, sondern schlicht für alle Menschen, die gerne gute Geschichten lesen.

Robert Menasse: Die Erweiterung. Roman. Suhrkamp, 653 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-518-43080-4

Und hier die Textversion: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-erweiterung/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783518430804

2. «Wo die Wölfe sind» von Charlotte McConaghy

Ich bin ein Politik-Nerd und finde den Roman von Menasse auch deshalb besonders spannend. Wenn Sie sich nicht für Politik interessieren, möchte ich Ihnen «Wo die Wölfe sind» von Charlotte McConaghy ans Herz legen.

Die Geschichte spielt in Schottland. Hier, in den Cairngorms Mountains, leitet die australische Biologin Inti Flynn ein Wolfsprojekt: Zusammen mit ihrem Team will sie im Norden der schottischen Highlands Wölfe ansiedeln. Die Wölfe sollen das natürliche Gleichgewicht in den Wäldern wiederherstellen. Doch die Einheimischen wehren sich, gegen die Raubtiere und auch gegen die ausländischen Wissenschaftler. Die Situation eskaliert, als mehrere Schafe gerissen werden und sogar ein Mann verschwindet. In der Kälte des schottischen Winters droht ein hitziger Kampf um die Wölfe – und um die Frage, was wild ist und was böse.

Es sind diese Grundfragen, die den Roman prägen: Was ist wild und was ist böse? Sind Wölfe, die sich ihrer Natur gemäss verhalten und Schafe reissen, böse? Und wie ist das beim Menschen? Kann es sein, dass ein Mensch, der seiner Natur folgt, wild ist – oder ist er dann nur böse, weil er sich nicht mehr kontrolliert? Eingebettet sind diese Fragen in die packenden Schilderungen der schottischen Wälder und des wilden Lebens der Wölfe. Eine Nebenwirkung des Romans wird sein, dass Sie danach die Wölfe mit anderen Augen sehen. Eine spannende Geschichte aus der wilden Natur Schottlands.

Charlotte McConaghy: Wo die Wölfe sind. Roman. S. Fischer Verlag, 432 Seiten, 31.90 Seiten, ISBN 978-3-10-397100-2

Und hier die Textversion: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/wo-die-woelfe-sind/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971002

3. «Das Leben vor uns» von Kristina Gorcheva-Newberry

Das Ereignis, das uns alle 2022 wohl am meisten beschäftigt hat, das waren nicht die Wölfe, sondern der Überfall Russlands auf die Ukraine. Wir alle schauen entsetzt nach Russland und fragen uns, was nur aus dem Land von Puschkin und Tschechow, von Prokofjew und Strawinski geworden ist. Warum waren die Reformen von Michail Gorbatschow nicht nachhaltig? Wie konnte es zum Putinismus kommen? Kristina Gorcheva-Newberry beantwortet diese Fragen nicht. Sie ist keine Politologin, sondern eine Schriftstellerin. Sie erzählt in ihrem Roman «Das Leben vor uns» die Geschichte von zwei Mädchen, die in den letzten Jahren der Sowjetunion aufwachsen. Politik spielt darin keine Rolle: Breschnew, Andropow und Tschernenko sehen die Mädchen allenfalls bei der Neujahrsansprache im Fernsehen. Gorcheva schildert präzis und sprachmächtig den Alltag der beiden in der zerfallenden Sowjetunion. Im Kleinen, in Gesprächen, in den Träumen der Menschen wird spürbar, was der Zerfall bedeutet.

Obwohl sie nie über den Staat und die Politik schreibt, sind sie stets präsent und spürbar, als graue Wand im Hintergrund, auf dem Esstisch, im Buchregal, auf dem Plattenspieler. Der Lieblingssong der beiden Moskauer Mädchen Anja und Milka ist «We are the Champions» von Queen – sie singen das Lied nicht nur, sie fühlen sich auch so, bis ein schreckliches Ereignis Anja dazu bringt, nicht nur ein Auslandsemester in den USA zu verbringen, sondern danach gleich in Amerika zu bleiben. Kristina Gorcheva ist selbst diesen Weg gegangen: Sie ist in der Zeit, die sie im Buch darstellt, in Moskau aufgewachsen – man merkt beim Lesen, dass sie genau weiss, wie der Apfel aus dem Garten der Datscha oder die Limonade schmecken und wie es in Moskau riecht und aussieht. Gorcheva erklärt damit mehr als viele Politologen in ausführlichen Analysen – und erzählt gleichzeitig mit wunderbar präziser Sprache die Coming-of-Age-Geschichte von zwei Mädchen in Moskau.

Für mich ist der Roman von Kristina Gorcheva-Newberry deshalb eines der besten Bücher, das ich dieses Jahr gelesen habe. Es ist Literatur im besten Sinn: Eine spannende Geschichte, sprachlich wunderbar eigenwillig in schöne Bilder verpackt. Die grosse, abstrakte Politik wird im Kleinen erlebbar und für Kenner gibt es erst noch viele Anspielungen an den «Kirschgarten».

Kristina Gorcheva-Newberry: Das Leben vor uns. Roman. Beck, 359 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-406-79131-4

Und hier die Textversion: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/das-leben-vor-uns/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406791314

4. «Candy Haus» von Jennifer Egan

Ein Motiv, mit dem Kristina Gorcheva-Newberry spielt, das ist die trügerische Erinnerung. Wir alle erinnern uns manchmal nicht an die Vergangenheit, wir erträumen sie uns. Stellen Sie sich vor, Sie könnten ihre Erinnerungen in die Cloud hochladen. Es gäbe eine Apparatur, die Ihre Erinnerungen digitalisiert und in einen Onlinedienst hochlädt. Da könnten Sie die Erinnerungen jederzeit abrufen und mit anderen Menschen teilen. Sie könnten Erinnerungen miteinander vergleichen und so ein Ereignis aus mehreren Perspektiven erleben. Und sie könnten bei traumatischen Erlebnissen Ihre Erinnerungen redigieren. Genau das ist die Ausgangslage des neuen Romans von Jennifer Egan: «Candy Haus» heisst der Roman, eine seltsame Halbübersetzung des englischen Titels «The Candy House», also eigentlich «das Süssigkeitenhaus». Wie das Lebkuchenhaus bei «Hänsel und Gretel» steckt im Candy House der Erinnerungen aber keine Erlösung, sondern eine böse Hexe.

Jennifer Egan erzählt keine chronologische Geschichte. Es ist ein Kaleidoskop von Einzelerzählungen: Sie verfolgt abwechslungsweise einzelne Charaktere. Es ist, wie wenn sie in der Memory-Cloud herumscrollen würde. Sie taucht jeweils kurz in eine Person ein und schildert eine Sequenz aus deren Sicht, dann wechselt sie die Person und die Perspektive wieder. Am Anfang irritiert das, mit der Zeit merkt man, wie präzise die Form das eigentliche Thema des Buchs abbildet. Im Zentrum steht nämlich, anders als etwa bei Dave Eggers und seinem «The Circle», nicht die autoritäre Macht des technischen Systems und seine Kritik. Im Zentrum stehen die Menschen und die Frage: Was ist eine Erinnerung? Was ist Authentizität? Was ist echt in unserem Leben – und wie finden wir das heraus?

Jennifer Egan: Candy Haus. Roman. S. Fischer-Verlag, 416 Seiten, 37.90 Franken; ISBN 978-3-10-397145-3

Und hier die Textversion: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/candy-haus/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103971453

5. «Dschinns» von Fatma Aydemir

Um die Weihnachtstage sind viele von uns ganz auf die Familie konzentriert. So eine Familie kann eine ganz eigentümliche Dynamik annehmen. Vor allem dann, wenn eine zentrale Bezugsperson plötzlich nicht mehr da ist. So passiert das im Roman von Fatma Aydemir. «Dschinns» heisst die Geschichte. Von einem Dschinn reden die Leute, wenn sie Dinge meinen, die sie nicht erklären können. Alle haben wir unsere Dschinns. Ganz besonders in der Familie.

Im Roman von Fatma Aydemir hat Hüseyin Yılmaz dreissig Jahre lang in Deutschland geschuftet und gespart, damit er sich in Istanbul eine Wohnung kaufen konnte. Jetzt ist es endlich geschafft: Zum ersten Mal steht er in der eigenen Wohnung – und stirbt. Herzanfall: Zack, tot. Der Patriarch fällt und hinterlässt eine gewaltige Leerstelle in seiner Familie. Fatma Aydemir erzählt Hüseyins Geschichte aus der Perspektive dieser seiner Familie. Besser gesagt: aus sechs Perspektiven: Aus der Sicht von ihm selbst, aus der Sicht seiner Kinder Sevda, Peri, Hakan und Ümit sowie aus Sicht seiner Frau Emine. Alle sind sie nach Istanbul gereist, jetzt sind sie vereint in der Wohnung, die Hüseyin gekauft hat, erleben das Begräbnis des Vaters und erzählen ihre Vergangenheit mit ihm in Rückblenden. Es sind Geschichten vom Aufeinanderprallen von Kulturen und Generationen, voller Missverständnisse und Gefangenheiten.

Die Familie ist gefangen von ihren Geistern, ihren Dschinns, weil niemand auszusprechen wagt, was ihn wirklich beschäftigt. In dieser Familie wird niemals laut gestritten. In dieser Familie kämpft man immer mit bedeutungsvollen Blicken und abgewandten Augen, mit lauter Dingen, die nie ausgesprochen werden und darum umso schwerer in der Luft liegen, weil alle wissen, wovon das Nicht-gesagte erzählt und gegen wen es sich richtet. Es sind diese Dschinns, die dem Buch den Titel gegeben haben und die wir auch in der Schweiz nur zu gut kennen. Es ist dieses Schweigen, das auch wir Schweizer nur zu gut beherrschen. Deshalb hat dieses Buch über eine kurdisch-türkisch-deutsche Familie auch uns viel zu sagen. Und darüber hinaus ist schlicht ein Buch, das wunderbar zu lesen ist.

Fatma Aydemir: Dschinns. Roman. Hanser, 368 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-26914-9

Und hier die Textversion: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/dschinns/

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446269149

So. Das waren sie also, meine fünf besten Bücher des Jahres. Es sind Bücher, die ebenso intelligent wie unterhaltend sind.

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Lesen sie gut.