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Die besten Bücher 2021

Publiziert am 21. Dezember 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp, ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. 50 Bücher waren es in diesem Jahr. Zeit, Bilanz zu ziehen: Ich stelle Ihnen im Folgenden die fünf besten Bücher des Jahres 2021 vor. Das ist natürlich eine subjektive Wertung. Es gibt bestimmt weitere, sehr gute Bücher. Sagen wir also: Von den 50 Büchern, die ich Ihnen dieses Jahr empfohlen habe, sind es jene fünf Titel, die ich als besonders wichtig, als besonders wertvoll, eben: als besonders gut erachte. Ich habe für diese Auswahl alle Bücher noch einmal zur Hand genommen, noch einmal abgewogen und bewertet. Hier kommen Sie: Die fünf Bücher des Jahres, die Sie meiner Ansicht nach nicht verpassen dürfen. 

Ich stelle Ihnen jede Woche ein Buch vor, das ebenso intelligent wie unterhaltend ist. Ich suche dafür gut erzählte, packende Geschichten mit einem spannenden historischen, wissenschaftlichen oder philosophischen Hintergrund. Das neue Buch von T.C. Boyle erfüllt diese Bedingungen perfekt. 

Der Roman heisst «Sprich mit mir». Und der, der da sprechen soll, das ist ein Affe: Der Schimpanse Sam lernt, sich mit der Zeichensprache ASL auszudrücken. ASL, das ist die American Sign Language, die Gebärdensprache, die Gehörlose in Amerika einsetzen. Der Schimpanse Sam lernt also, zu gebärden. Denn sprechen können Primaten nicht: Ihr Kehlkopf liegt zu hoch im Hals. In den 60er Jahren sind amerikanische Forscher deshalb auf die Idee gekommen, die Gebärdensprache ASL für die Kommunikation mit einem Schimpansen zu benutzen. Und das funktionierte: Schimpansin Washoe lernte Ende der 1960er-Jahre als erstes Tier ASL-Gebärden. Washoe kommunizierte nicht nur mit ihren Betreuern über Gebärden, sie brachte auch anderen Affen die Zeichen bei. Washoe soll über hundert verschiedene Zeichen benutzt und die Gebärden auch kombiniert haben. 

Das ist der reale Hintergrund des Romans von T.C: Boyle. Im Roman lernt Schimpanse Sam nicht nur, sich mit Zeichen zu verständigen, sondern auch eigene Gedanken zu formulieren. Mindestens sieht es so aus. Studentin Aimée stösst als studentische Hilfskraft zum Forschungsprojekt rund um Sam. Sie entwickelt eine enge Beziehung zum gebärdenden Schimpansen – und die Liebe ist gegenseitig: Sam akzeptiert sie als Mutter-Ersatz. Doch da werden dem Forschungsprojekt die Gelder gestrichen. Sam wird zurück in einen Käfig verfrachtet und soll für Aids-Forschung benutzt werden. 

T. C. Boyle ist mit «Sprich mit mir» nicht nur ein weiterer, spannender Roman gelungen. Er erschliesst mit dem Roman ganz zentrale, aktuelle Fragen einem breiten Publikum: Was ist Sprache? Was unterscheidet den Menschen von Tieren? Dürfen Menschen Tiere gefangenhalten? Ist das nicht Speziezismus, also die Bevorteilung einer Spezies auf Kosten einer anderen? Und: Sollen Menschenaffen Rechte haben? In Basel wird diese Frage bald politisch geklärt: Am 13. Februar 2022 kommt die baselstädtische Initiative «Grundrechte für Primaten» zur Abstimmung. Die Initiative will «nichtmenschlichen Primaten» das Recht auf «Leben und auf körperliche und geistige Unversehrtheit» geben.

T.C. Boyle, Sprich mit mir. Roman. Hanser, 352 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-446-26915-6

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446269156

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/sprich-mit-mir/

Ebenfalls auf realen, historischen Ereignissen beruht der zweite Roman, den ich Ihnen ans Herz legen möchte: Er heisst «Revolution der Träume», geschrieben hat ihn Andreas Izquierdo 

Im chaotischen Berlin von 1918 treffen sich die drei Freunde Carl, Artur und Isi. Sie erleben die Novemberrevolution, den Aufstand der Matrosen und wie die Aufständischen von den Gardeschützen zusammengeschossen werden. Carl möchte Kameramann werden, heuert bei der damals schon legendären Filmfabrik UFA an, Isi macht Revolution und tanzt sich durch die Grossstadt und Artur hat im Stillen eine verschworene Bande aufgebaut und mach Business mit einem Tanzpalast. 

Der Roman spielt 1918 bis 1921, in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Es ist eine verrückte Zeit, die in manchem an unsere eigene Zeit erinnert: Deutschland taumelte zwischen Chaos und Ekstase, zwischen prüder Kaiserzeit und Aufbruch in den Expressionismus, zwischen 19. Jahrhundert und einer Gegenwart mit Automobil, Kino, Radio und Grammophon. In dieser Zeit spielt der Roman von Andreas Izquierdo nicht nur, stellt die Zeit auch kongenial dar anhand der drei Hauptfiguren. 

Für mich ist Andreas Izquierdo mit «Revolution der Träume» ein historischer Roman in der Tradition von Erich Maria Remarque gelungen. Das Buch liest sich wie ein Film, es zeichnet starke Bilder und vermittelt gleichzeitig viel Wissen über die Zeit von 1918 bis 1921, die doch für uns immer tief im Schatten des Zweiten Weltkriegs steht. Für mich ganz klar eines der besten Bücher des Jahres.

Andreas Izquierdo: Revolution der Träume. Roman. Dumont Verlag, 512 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-8321-6499-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783832164997

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/revolution-der-traeume/

Auf eine ganz andere Art geht Susann Pásztor mit Geschichte um: In ihrem Roman steht weniger die historische Geschichte, als die Geschichte als persönliche Vergangenheit im Zentrum. Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen: 1973 sind Kat und Easy16, sie sind beste Freundinnen und sie haben sich viel vorgenommen für das neue Jahr. Es ist das Jahr 1973. Willy Brandt ist Bundeskanzler, Pink Floyd und Uriah Heep spielen die Musik der Stunde und im Jugendzentrum von Laustedt kreisen Joints so selbstverständlich wie Bierflaschen. Laustedt gibt es nicht und doch zu Dutzenden: Es ist die sprichwörtliche Stadt in der Provinz mit einem Gymnasium, einem Jugendzentrum, Eltern, die sich gegenseitig kennen und Jugendlichen, denen der Ort zu eng ist und doch Heimat.

Kat und Easy, die eigentlich Isi heisst, aber von Kat in Easy umgetauft worden ist, Kat und Easy also haben sich viel vorgenommen für das neue Jahr. Ein richtiges Konzert, einen Joint, und Sex, natürlich. Doch dann kommt alles anders. Denn Kat und Easy verlieben sich. Dummerweise in denselben Mann. 

Fast fünfzig Jahre später treffen sich Kat und Easy wieder auf Kreta. Beide sind jetzt Anfang 60. Kat betreibt einen erfolgreichen Lebenshilfe-Blog, ist geschieden und hatte nie Kinder. Easy hat drei Kinder von drei unterschiedlichen Männern, lebt trotzdem allein und ist immer noch – ja: easy. 

Susann Pásztor erzählt die Geschichte von Kat und Easy mit leichten Worten, aber immer präzise und mit einem wunderbar lakonischen Humor. Immer abwechslungsweise spielt ein Kapitel im Laustedt von 1973 und auf Kreta in der Gegenwart. Die Vergangenheit ist dabei aus neutraler Perspektive mit Blick über die Schultern von Kat erzählt, die Gegenwart aus der Ich-Perspektive von Kat. 1973 ist die zentrale Frage: Wer bin ich? Wer möchte ich sein? In der Gegenwart lautet die Frage: Was bin ich geworden? Bin ich das wirklich – oder mach ich mir etwas vor?

Genau deshalb geht der Roman uns alle an.

Susann Pásztor: Die Geschichte von Kat und Easy. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten, 29.90 Franken; ISBN 978-3-462-05281-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783462052817

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/die-geschichte-von-kat-und-easy/

Bin ich das wirklich – oder mach ich mir etwas vor? Aber was heisst das genau? Und wie beschreibt man diese Realität? Dass es manchmal die Präzision der Poesie braucht, um die Wirklichkeit adäquat abzubilden, hat die Zürcher Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller in ihrem Roman über Hannah Arendt gezeigt: «Was wir scheinen» heisst das Buch. Es ist ein wunderbar poetisches Porträt der streitbaren jüdischen Philosophin. Hannah Arendt, 1906 in Hannover geboren, 1975 in New York City gestorben, jüdische deutsch-amerikanische Publizistin und politische Theoretikerin. Sie hat sich ihr Leben lang intensiv mit totalitären Systemen auseinandergesetzt. Für den «New Yorker» berichtete sie 1961 über den Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem. Arendt prägte in diesem Zusammenhang den Begriff der «Banalität des Bösen» und stiess damit auf teils erbitterten Widerstand. 

Hannah Arendt war eine unerbittliche Denkerin, auch wenn das bedeutete, «dahin zu denken, wo es wehtut», wie sie selber einmal sagte. Umso überraschender ist es, dass die Zürcher Autorin und Literaturwissenschaftlerin Hildegard Keller dieser messerscharf denkenden Frau einen höchst poetischen Roman widmet: «Was wir scheinen» erzählt von den letzten Sommerferien von Hannah Arendt im Tessin: 1975, kurz vor ihrem Tod, reist sie noch einmal nach Tegna, einem kleinen Dorf im Tessin, etwas nördlich von Ascona. Hier, im Hotel Barbatè, das es übrigens immer noch gibt, hat Hannah Arendt viele Sommerferien verbracht – die letzten, die siebten, 1975. 

Im Buch von Hildegard Keller reist Hannah Arendt also noch einmal ins Hotel Barbatè, schreibt und dichtet und erinnert sich an ihr Leben. In Rückblenden erzählt Hildegard Keller diese Erinnerungen an Berlin, Paris und New York als inneren Dialog von Hannah Arendt, durchsetzt von Zitaten aus Briefen und von Gedichten. Das war für mich eine Überraschung: dass Hannah Arendt gedichtet hat. Ich glaube nach der Lektüre des Romans, dass Hannah Arendt nicht versteht, wer ihre Gedichte nicht kennt, wer sie nicht als Poetin begreift.

Hildegard Keller: Was wir scheinen. Roman. 576 Seiten, Eichborn-Verlag, 34.90 Franken; ISBN 978-3-8479-0066-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783847900665

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/was-wir-scheinen/

Hildegard Keller führt uns also die Wahrheit der Dichtung vor Augen. Ein Dichterfürst der Wahrheit in Deutscher Sprache war und ist Thomas Mann. Für seinen ersten grossen Roman «Die Buddenbrooks» hat er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhalten. Während des Zweiten Weltkriegs hat er, wenn auch nach langem Zögern, mit Essays und Reden scharf gegen die nationalsozialistische Herrschaft Stellung bezogen. Als Erzähler wahrt Thomas Mann immer eine skeptisch-ironische Distanz zu seinen Figuren. Er entstammte einer grossbürgerlichen Lübecker Familie und hat Zeit seines Lebens die Attitüde eines Grossbürgers beibehalten. Er blieb immer beherrscht, korrekt, distanziert.

Entsprechend habe ich die Werke von Thomas Mann bewundert, wurde mit ihm als Menschen aber nicht warm. Bis ich diesen Roman von Colm Tóibín gelesen hatte: «Der Zauberer» heisst das Buch. Es ist ein biographischer Roman. Colm Tóibín hat also das biografische Faktengerüst des Lebens von Thomas Mann genommen und das Gerüst emphatisch aufgefüllt mit einer Lebenserzählung. Das Spannende daran ist, dass das Buch konsequent aus der Perspektive von Thomas Mann erzählt ist: Wir klettern also in seinen Kopf und lesen, was er gedacht und gefühlt hat – oder wenigstens, wie  Tóibín sich das vorstellt. Das Resultat ist ein wunderbar feinfühliger Roman über das Leben von Thomas Mann aus dessen eigener Perspektive.

Natürlich ist das Buch von Colm Tóibín ein Roman. Also eine Interpretation der biographischen Fakten. Aber es ist eine schlüssige Interpretation. Colm Tóibín zeigt schön, wie stark das Werk von Thomas Mann mit dessen Leben verwoben ist, wie aus Erleben Erzählung wird. Vor allem aber macht das Buch Tomas Mann menschlich. Und das einer Erzählweise und einer Sprache, die dem Objekt des Romans alle Ehre macht. 

Colm Tóibín: Der Zauberer. Roman. Hanser, 560 Seiten, 40.90 Franken; ISBN 978-3-446-27089-3

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446270893

Weitere Informationen: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/der-zauberer/

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Basel, 21. Dezember 2021, Matthias Zehnder

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