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Der Weg zur Grenze

Publiziert am 1. Dezember 2022 von Matthias Zehnder

1944 schrieb die deutsche Schriftstellerin Grete Weil im niederländischen Exil den Roman «Der Weg zur Grenze». Es ist die autobiographisch gefärbte Beschreibung des Aufstiegs der Nazis zur Macht. Auf ihren eigenen Wunsch blieb der Roman unveröffentlicht und geriet in Vergessenheit. Jetzt ist er im Archiv wiederentdeckt worden. Mit dem Roman bewegt sich Grete Weil auf Augenhöhe mit «Die Nacht von Lissabon» von Erich Maria Remarque. Nur dass die Rahmenhandlung nicht in Lissabon spielt, sondern in einer eingeschneiten Hütte ein den bayrischen Alpen. Da erzählt Monika einem jugendlichen Freund ihre Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte einer Jüdin aus guter, bürgerlicher Familie. Einer Familie, die viel zu lange auf den deutschen Staat vertraute und deshalb, allen Zeichen zum Trotz, den Zeitpunkt zur Flucht verpasste. In meinem 132. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich auch 80 Jahre danach lohnt, dieses Buch zu lesen.

Grete Weil wurde 1906 am Tegernsee geboren. Sie entstammte einer grossbürgerlichen, jüdischen Rechtsanwaltsfamilie. Ihr älterer Bruder und ihr Vater betrieben zusammen eine Anwaltskanzlei. Im Elternhaus trafen sich Künstler und Intellektuelle der Avantgarde zum Austausch. Ihre Familie empfand sich als assimilierte Juden, als Teil Deutschlands. Nach dem Abitur studierte Grete in München, Berlin und Paris Germanistik. Sie gehörte zum Freundeskreis der Geschwister Erika und Klaus Mann. Wie die beiden Mann-Geschwister schrieb sie Erzählungen und Reportagen. Die Arbeit an ihrer Promotion musste sie abbrechen, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Stattdessen absolvierte sie eine Fotografenlehre bei einem bekannten Portraitfotografen.

1932 heiratet sie Edgar Weil, einen Grosscousin. Nachdem er 1933 kurz verhaftet worden war, flüchtete ihr Mann in die Niederlande. 1935 emigriert auch Grete nach Amsterdam und betreibt da ein Fotoatelier. Als die Nationalsozialisten die Niederlande besetzen, verhaften sie Edgar Weil und verschleppen ihn ins Konzentrationslager Mauthausen. 1941 ermorden sie ihn da. Grete Weil überlebt die Besetzung und den Holocaust in einem Versteck in Amsterdam. Da schreibt sie den Roman «Der Weg zur Grenze», in dem sie ihre Ehe mit Edgar Weil und das Verhältnis ihrer grossbürgerlichen Familie zu Deutschland verarbeitet.

Im Roman heisst die Hauptfigur Monika. Die Rahmenhandlung spielt 1936: Monika ist mit den Skiern auf dem Weg in die Bayrischen Alpen. Sie will über die Berge ins Ausland flüchten. Ihr Mann Klaus ist im KZ Dachau getötet worden. Sie selbst wird von der Gestapo gesucht. Im Zug auf dem Weg in die Berge begegnet sie Andreas, einem Bekannten von der Universität, der sie bewundert. Sie lässt sich von ihm begleiten. Die beiden Skiwanderer werden aber von einem Schneesturm heimgesucht. Nur knapp schaffen sie es in die Skihütte von Monikas Familie. In der Zuflucht der Hütte erzählt Monika ihrem jungen Freund ihre Lebensgeschichte.

Die Geschichte, die Monika erzählt, orientiert sich stark an Grete Weils eigener Lebensgeschichte. Wie Grete selbst wächst Monika in einem grossbürgerlich-jüdischen Elternhaus auf. Wie sie studiert sie an der Universität München. Monika verliebt sich in ihren Cousin Klaus und heiratet ihn – im richtigen Leben von Grete ist ihr Mann Edgar Grosscousin. Im Buch spielt die Liebe zu Klaus eine wichtige Rolle: Es ist eine Liebe, an der sich Monika wie eine Motte am Licht die Flügel verbrennt. Sie schreibt: «Leben mit ihm war kaum möglich, leben ohne ihn unausdenkbar.» Diese Schilderungen waren es wohl auch, die Grete Weil dazu gebracht haben, den Roman für die Zeit ihres Lebens für die Publikation zu sperren.

Spannend im Buch ist zu lesen, wie sicher sich die jüdische Bevölkerung in Deutschland fühlte. Dabei wären die Warnungen sehr deutlich gewesen: Schon 1923, während des Hitler-Ludendorff-Putschs in München, wollten Nationalsozialisten Gretes Vater in dessen Kanzlei verhaften. Glücklicherweise war er gerade nicht anwesend. Gretes Bruder alarmierte ihn, gemeinsam flüchteten sie aufs Land, kehrten aber nach München zurück, als der Putsch niedergeschlagen worden war. Wie Gretes wirklicher Familie ist auch die Familie von Monika im Buch überzeugt, dass Deutschland auch unter politisch schwierigen Verhältnissen ein bürgerliches Land bleiben wird, in dem Gesetze gelten. Viel zu spät realisieren sie, dass die Nazis die Parolen aus dem Bierkeller tatsächlich umsetzen wollen.

Es ist aber nicht nur das Historische, was die Geschichte interessant macht. Exemplarisch daran ist die Verzweiflung von Monika, sich mit einer Gesellschaft arrangieren zu müssen, gegen die sie gleichzeitig rebelliert. Anlage, Rahmenhandlung und Thema des Buchs erinnern stark an «Die Nacht von Lissabon» von Erich Maria Remarque. Im Buch tritt uns aber in ganz anderem Ton als bei Remarque eine selbstbewusste junge Frau entgegen. Das machst das Buch auch achtzig Jahre nach seiner Entstehung zu einer Entdeckung. Ein ausführliches Nachwort mit einer biographischen Einordnung, illustriert mit Bildern von Grete und ihrem Mann, erschliesst die Geschichte historisch. Spannend.

Grete Weil: Der Weg zur Grenze. C.H. Beck, 384 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-406-79106-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406791062

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Basel, 1. Dezember 2022, Matthias Zehnder

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