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Der Unbekannte

Publiziert am 10. Mai 2022 von Matthias Zehnder

Bereits zum vierten Mal lässt Christine Brand den Berner Kriminalpolizisten Sandro Bandini in Sachen Mord ermitteln. Diesmal kommt ihm seine Freundin Milla Nova in den Weg. Nicht nur, weil die beim Schweizer Fernsehen arbeitet, sondern auch, weil ihre Mutter verdächtig wird, den Präsidenten des Schweizer Nationalrats umgebracht zu haben. Schon das allein wäre eine süffige Story. Aber der Todesfall bringt noch eine weitere Geschichte ans Tageslicht. Und die hat mit der Vergangenheit von Nathaniel zu tun. Nathaniel sieht seit seinem elften Lebensjahr nichts mehr. Sein Vater hatte damals die ganze Familie und sich selbst getötet. Nur Nathaniel hat schwer verletzt überlebt – seither ist er blind. So hat es ihm die Polizei erzählt. Doch jetzt tauchen Ungereimtheiten auf. Nathaniel muss sich alleine auf die Suche nach der Wahrheit machen, denn Milla Nova und Sandro Bandini sind beide auf ihre Weise in den Fall verwickelt. Es beginnt ein spannende Suche in der Vergangenheit, in der nur der blinde Nathaniel die Wahrheit sieht. Und das ist auch der Moment, Sie zu warnen: Ich rate Ihnen dringend von der Lektüre dieses Buches ab, wenn Sie dringende Arbeiten erledigen müssen oder eine volle Todo-Liste haben. Es könnte Ihren Zeitplan durcheinanderbringen.

 

Der neue Thriller von Christine Brand beginnt im Bett. Und zwar im Bett der Mutter von Milla Nova. Margret ist zwar nicht mehr die Jüngste – trotzdem hat sie eine heisse Affäre. Auch ihr Lover ist ein älterer Herr. Die beiden geniessen in den Laken noch einmal das Leben. Auch an diesem Morgen. Doch statt des erhofften Höhepunkts kommt es zum Totalabsturz: Liebhaber Ronnie stirbt mitten im Akt. Herzinfarkt. Und das ist ein Problem. Denn Ronnie ist nicht nur verheiratet, er ist auch der amtierende Präsident des Nationalrats. Margret Nova ruft deshalb ihre Tochter zu Hilfe. Ihr Ziel: die Leiche verschwinden lassen.

Natürlich will sie will ihren Ronnie nicht ganz verschwinden lassen, aber doch aus ihrem Schlafzimmer entfernen. Er soll anderswo gefunden werden. Sie will ihm postum einen Skandal vom Hals halten. Doch das ist gar nicht so einfach. Denn inzwischen ist das Verschwinden des Nationalratspräsidenten bemerkt worden. Er wird gesucht. Liegt womöglich ein Verbrechen gegen Leib und Leben vor? Schliesslich hat der Nationalratspräsident in der Covid-Krise immer wieder Drohungen erhalten. Also nimmt die Berner Polizei, Abteilung Leib und Leben, Ermittlungen auf. Und der Leiter dieser Abteilung ist – Sandro Bandini, der Freund von Milla Nova. 

Würde es dabei bleiben, es wäre eine Geschichte von Dürrenmattscher Absurdität. Doch der Tod des Nationalratspräsidenten bildet nur den Auftakt zur eigentlichen Geschichte. Und das ist die Geschichte des blinden Nathaniel. Er ist blind, seit sein Vater in einem Anfall geistiger Umnachtung seine ganze Familie auslöschte. Zehn Jahre war Nathaniel  damals alt. Er selbst hat daran keine Erinnerung. Er weiss alles nur aus der Erzählung des Polizisten, der damals die Ermittlungen leitete. Heute arbeitet er in der Ermittlungsgruppe von Sandro Bandini. Weil Nathaniel mehr wissen möchte über seinen Vater, meldet er sich bei dem Polizisten und bittet um Akteneinsicht. Doch der wimmelt ihn ab. Was einerseits verständlich ist. Schliesslich ist der Fall schon lange her. Andererseits – wie kann Nathaniel sicher sein, dass es sich damals so zugetragen hat, wie der Polizist es ihm erzählt hat? 

Nathaniel beginnt, zu recherchieren. Was für einen blinden Mann nicht einfach ist. Zum Glück helfen ihm seine Freundin Gundula und seine Nachbarin Veronika und natürlich Milla Nova. Die Suche wird zu einem gefährlichen Abenteuer, das Nathaniel selbst fast das Leben kostet. Christine Brand verbindet geschickt reale Geschichte und Fiktion miteinander. Da ist die Rote Armee Fraktion, die Terrorgruppe RAF, die in den 70er Jahren von einer linksterroristischen Gruppierung aus der Schweiz mit Waffen und Munition beliefert wurde. Die Schweizer Unterstützer raubten die Waffen aus Depots der Schweizer Armee, die damals kaum gesichert waren. Diese Schweizer Unterstützergruppe heisst im Roman «Gruppe Bertastrasse». Diese Gruppe ist von einer geheimen Abteilung des Nachrichtendienstes der Armee unterwandert worden. Da fliessen als Hintergrund der reale Skandal um die Armeegruppe P26 und der Fichenskandal ein. Im Roman heisst die Gruppe «K17». Sie wurde von hohen Offizieren angeführt, Offizieren, die nach ihrem aktiven Dienst eine politische Laufbahn anstrebten. Auch der Nationalratspräsident ist darin verwickelt – sein Tod  bringt deshalb Dinge ans Licht, die lange verborgen werden konnten.

Christine Brand erzählt uns also wieder eine wirklich spannende Geschichte, die gekonnt verwoben ist mit der realen Geschichte der Schweiz. Sie erzählt diese Geschichte aus der Perspektive ihrer Protagonisten und das ist es, was das Buch besonders packend macht. Sie weiss nämlich präzise über das Handwerk der Fernsehreporterin Milla Nova, des Kriminalpolizisten Sandro Bandini oder der Gerichtsärztin Bescheid. Besonders eindrücklich ist das, wenn Christine Brand die Perspektive des blinden Nathaniel einnimmt und die Welt so schildert, wie ein Mensch sie erlebt, der nicht sehen kann:

«Eine automatisch generierte Frauenstimme verkündet Nathaniel, dass er bei der nächsten Station am Ziel ist. Der Bus stoppt, die Tür öffnet sich mit einem schmatzenden Geräusch, und als Nathaniel gemeinsam mit Alisha aussteigt, ist ihm sofort jeder Geruch wieder vertraut. Er riecht die Bäckerei an der Ecke, Teig und frisches Brot, die Velowerkstatt neben der Haltestelle, Gummi und Kettenöl, und die vier Glascontainer, die auf dem Gehsteig in den Boden eingelassen sind; abgestandener Alkohol. Hier riecht es wie in einer unaufgeräumten Dorfkneipe, wenn am Morgen nach einer durchzechten Nacht aufgeschlossen wird.
Alisha bellt einmal leise, als sie an der Tür des Mehrfamilienhauses angekommen sind, das einst ihr Zuhause war und in dem Veronika noch immer wohnt. Aus lauter Gewohnheit greift Nathaniel in seine Hosentasche, um den Schlüssel hervorzuklauben, bis ihm einfällt, dass er für diese Tür gar keinen Schlüssel mehr hat. Er tastet nach der Klingel, zählt von oben drei Knöpfe ab und drückt auf den vierten.
Er muss sich eine Weile gedulden, bis der Türsummer erklingt. Alisha beginnt so heftig zu wedeln, dass ihr ganzer Hintern wackelt und ihr Schwanz energisch gegen Nathaniels Beine klopft. Sie schafft es nicht stillzustehen, sondern will sich immer wieder um sich selbst drehen, was wegen des Geschirrs nicht gelingt. Alisha japst nervös, und kaum öffnet Nathaniel die Eingangstür, versucht die Hündin die Treppe hochzustürmen, sodass sie Nathaniel beinahe zu Fall bringt.
«Piano!», ruft Nathaniel genervt, er kann sich heute nicht mit seinem Tier mitfreuen.» (S. 42 f.)

Christine Brand versteht es, die Perspektive des Blinden präzise wiederzugeben. Man hört und riecht die Welt mit ihm – und fühlt sich mit ihm unsicher, weil man sie nicht sieht. Und das hat durchaus seine Tücken:

«Auf einmal stoppt Alisha unvermittelt.
«Alisha, was ist los?«, fragt Nathaniel.
Erst jetzt hört er, dass sie sich an einer stark befahrenen Strasse befinden. Es klingt anders als in seinem Viertel. Es riecht auch nicht wie bei ihm um die Ecke.
«Wo sind wir?», fragt er Alisha, als würde er eine Antwort erwarten.
Seine Hündin japst einmal leise und setzt sich hin.
Nathaniel hat keine Ahnung, wo er sich befindet. Und er befürchtet, Alisha ergeht es ebenso.» (S. 67)

Neben dem spannenden, mitreissenden Plot macht dieses Eintauchen in die Erlebniswelt des blinden Nathaniel das Buch auch für Menschen lesenswert, die sonst mit Krimis wenig anfangen können.

Christine Brand: Der Unbekannte. Kriminalroman. Blanvalet, 544 Seiten, 22.90 Franken; ISBN 978-3-7645-0770-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783764507701

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 10. Mai 2022, Matthias Zehnder

Weitere Bücher von Christine Brand:

Der Bruder

Die Patientin

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