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Der Rote Diamant

Publiziert am 24. August 2022 von Matthias Zehnder

In der deutschen Literatur haben Romane, die das Erwachsenwerden im Internat schildern, eine lange Tradition. Zum Beispiel «Die Verwirrungen des Zöglings Törless» von Robert Musil: ein Schüler auf der Suche nach seiner Identität, hin- und hergezerrt zwischen Verstand und Gefühlen. Oder «Unterm Rad» von Hermann Hesse: Der begabte Hans Giebenrath zerbricht an den rigiden Regeln einer Schule und verirrt sich in seiner erwachenden Sexualität. Es sind schwermütige Berichte des Scheiterns. Einen ganz anderen Ton schlägt jetzt Thomas Hürlimann an: «Der rote Diamant» spielt zwar in einem katholischen Internat, einer Klosterschule, ist aber eigentlich ein mit unbändiger Fabulierlust erzählter Schelmenroman. Auch bei Hürlimann ist das Internat geprägt von rigiden, sturen Regeln. Von den Schülern wird erwartet, dass sie Vasen werden, blosse Gefässe, die den Schulinhalt aufnehmen. Anders als bei Musil und Hesse nimmt das aber niemand ernst: Die Schüler tricksen die Mönche in der Klosterschule aus und jagen dem mythischen roten Diamanten nach, dem letzten Rest eines Schatzes der Habsburgischen Kaiser, der im Kloster versteckt sein soll. In meinem 118. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die Lektüre dieses Romans lohnt.

 

Thomas Hürlimann hat selbst Erfahrungen als Zögling einer Klosterschule: Er ist in Zug aufgewachsen und hat die Stiftsschule Einsiedeln besucht. Die Schule ist Teil des Klosters Einsiedeln. Die Benediktinerabtei ist der wichtigste Wallfahrtsort der Schweiz: Die Schwarze Madonna von Einsiedeln in der Gnadenkapelle zieht jedes Jahr Hunderttausende Pilger an. Die Klosterschule in seinem neuen Roman heisst zwar «Maria zum Schnee» und liegt «in den Bergen». Wie das Kloster Einsiedeln ist es aber auch eine Benediktinerabtei, verfügt ebenfalls über eine Gnadenkapelle mit einer Schwarzen Madonna und ist ein wichtiger Wallfahrtsort.

Hier, in der Klosterschule «Maria zum Schnee», wird Ich-Erzähler Arthur Goldau kurz nach seinem elften Geburtstag im Herbst 1963 von seiner Mutter abgeliefert und wird zum «Zögling 230». Jetzt ist er nicht mehr Sohn eines Berufsmilitärs – sein Vater ist Oberst – und der ehemaligen Konzertpianistin Mimi Katz, er ist nur noch eine Nummer. Wie alle anderen trägt er eine Kutte und Sandalen an den blossen Füssen und wird zu einem namenlosen Teil der Klosterschule, eingetaucht in einen ewig gleichförmigen Schulalltag:

«Intra Muros, innerhalb der Mauern, herrschte der Ewige Tag. Da war keine Zeit, die verging, da war eine Zeit die kreiste, was sein wird, war; was war, wird sein. Um zehn nach fünf wurden wir geweckt, dann Morgengebet, dann Studium, dann Heilige Messe, dann Frühstück, dann Schule … und es glichen sich die Vormittage, die Nachmittage, die Abende, die Sonntage, die Marienfeste, und immer war es Winter, und immer schneite es, und der Ewige Tag, in dem ein erstes Jahr verging und bald ein zweites Jahr vergehen würde, bohrte die Hirne aus. Wie sich wehren? Jeder rüttelte mal an der versperrten Pforte oder an einem vergitterten Fenster, aber der Ewige Tag, in dem ein zweites Jahr verging und bald ein drittes Jahr vergehen würde, zermahlte alles: das Rückgrat, die Fluchtgedanken, das Heimweh, und so begann auch unsere Klasse ein Apostelwort des Paulus zu erfüllen: Gefässe sollten wir werden, ausgehöhlt und glatt geschliffen vom Ewigen Tag: Vasen.» (S. 47)

Die Schüler also werden Vasen, hohle Gefässe, die selbst keine Identität mehr haben. Für die Schule sind die Schüler nur noch Nummern, untereinander geben sie sich Spitznamen. Weil sich aber jedes Klassenkollektiv aus den gleichen Typen zusammensetzt, besteht keine Gefahr, dass der Individualismus sein Haupt erhebt. Den Klassensprecher nennen sie immer Dickie, den Scherzkeks Clown Giovanni, den Schönling Beau, den Kiffer Nebel, den Listigen nennen sie Viper und aus Arthur – oder «Arthi-Darling», wie Maman ihn nennt – wird die Vase namens Nase, weil er es riecht wenn Gefahr im Verzug ist. 

Das Gegenstück zur Hohlheit der Vasen ist der rote Diamant. Es ist ein legendärer Edelstein, der schon zwischen den Brüsten von Kleopatra gebaumelt haben soll. Später prangte er am Schwert der Staufer-Kaiser, wechselte zum Papst in den Vatikan und landete am Schluss beim apostolischen Kaiser in Wien, dem letzten Kronenträger der Doppelmonarchie. Dieser Kaiser Karl I. war von 1916 bis 1918 der letzte Kaiser von Österreich und zugleich König von Ungarn, Kroatien und Böhmen. 1911 hatte Kaiser Karl Zita Maria, Prinzessin von Bourbon-Parma geheiratet. 1921 war der Kaiser nach einem missglückten Restitutionsversuch in Ungarn 1921 ins Exil nach Funchal auf Madeira verfrachtet worden, wo er 1922 nach kurzer Erkrankung starb. Seine Frau, Kaiserin Zita, überlebte ihn um Jahrzehnte. Als Arthi die Nase die Klosterschule in Maria zum Schnee besucht, ist die Kaiserin in ihren 70ern und besucht mit den Überresten ihres Gefolges einmal im Jahr die Klosterschule und, mutmasslich, den roten Diamanten. Gesehen hat den noch nie jemand, doch die Legende will, dass der rot strahlende Edelstein über verschlungene Wege ins Kloster gelangt ist. Verschiedene Brüder sollen je einen Teil des Geheimnisses kennen, niemand aber verfügt über das ganze Wissen.

Zusammen mit mehreren Kameraden aus seiner Klasse macht sich Nummer 230, genannt «Nase», auf zur Suche nach dem roten Diamanten. Die Klosterschüler werden zu Jägern des verlorenen Schatzes wie weiland Indiana Jones. Thomas Hürlimann erzählt die Geschichte mit grosser Fabulierlust, wobei durch das Kostüm der Schatzsuche immer wieder vermutlich echte Erinnerungen von Hürlimann an die Klosterschule durchschimmern. Ich gebe Ihnen noch zwei Kostproben:

«Ewigkeit war in Maria Schnee kein leerer Wahn. Man ass, was alle assen. Man roch, wie alle rochen. Man träumte, was alle träumten (von Titten Schnitzeln Hintern Fritten). Man lernte, was hier schon immer gelehrt wurde, und dass man heranwuchs, merkte man höchstens am Kuttensaum, der sich langsam vom Boden abhob und zwei nackte Füsse freigab, schwärzliche Trauerränder unter den Zehen…» (S. 85)

Dass die Jungen «von Titten Schnitzeln Hintern Fritten» träumen, ohne Komma dazwischen übrigens, taucht refrainhaft immer wieder im Buch auf: Die Leiblichkeit und ihre Genüsse sind im Kloster ins Reich der Fantasie verbannt. Daraus resultiert nicht etwa grössere Geistigkeit, sondern höchstens grösser Hohlheit. Hürlimann macht klar, dass die Schule dem Glauben abträglich ist:

«Vom Glauben jedoch war ich abgefallen, wie die meisten in unserer Klasse. Abgestumpft durch den täglichen Messebesuch, die heruntergeleierten Pflichtbeichten oder die uninspirierten Predigten, die uns die Neuerungen des Vatikanischen Konzils schmackhaft machen sollten, waren wir Vasen tatsächlich hohl geworden, Urnen mit einem Aschenrest, unserem Kinderglauben, an den man sich ab und zu mit einem leisen Heimweh erinnerte – wie man sich an eine Kirmes erinnerte, die irgendwo in der Tiefe der Jahre mit einem leer sich drehenden Karussell eine verstimmte Orgel scheppern liess.» (S. 134f.)

Das ist gut beobachtet und präzise geschrieben. Was die Handlung angeht, changiert das Buch zwischen «Unterm Rad» und «Mein Name sei Eugen» – gewürzt mit einer Prise Parzival. Ob die Jungs um die Nase Arthi den roten Diamanten finden, sie hier natürlich nicht verraten. So oder so erhalten Sie als Leserin, als Leser mit dem Buch die wahre Preziose in Ihrer Hand.

Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant. S. Fischer Verlag, 32 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-10-397071-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783103970715

Esther Schneider hat in ihren Podcast «LiteraturPur» mit Thomas Hürlimann über sein Buch gesprochen. Das spannende Gespräch finden Sie hier.

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 24. August 2022, Matthias Zehnder

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