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Der Nachtstimmer
Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.
Diese Woche: «Der Nachtstimmer» vonMaarten ‚t Hart.
Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:
Gabriel Pottjewijd ist Orgelstimmer. Mir war, ehrlich gesagt, bis jetzt gar nicht bewusst, dass man auch Orgeln stimmen muss. Wobei es ja eigentlich auf der Hand liegt. Wie ein Klavierstimmer stimmt ein Orgelstimmer nicht nur die Pfeifen, sondern revidiert das Instrument ganz generell. Er beseitigt zum Beispiel Hänger, also Töne, nicht mehr aufhören zu klingen, auch wenn der Organist die Taste schon lange losgelassen hat. Gabriel Pottjewijd also ist Orgelstimmer und als solcher unterwegs in den Kirchen des Landes. Pottjewijd ist auf Garrels-Orgeln aus der Zeit von Johann Sebastian Bach spezialisiert und meist in Norddeutschland unterwegs. Diesmal führt ihn ein Auftrag aber in eine südholländische Hafenstadt. Das soll er die Orgel in der Grote Kirk revidieren.
Aber diese Hafenstadt hat es in sich: Wie in einem Märchen von Wilhelm Hauff ist der Leserin, dem Leser sofort klar, dass in der Stadt etwas nicht stimmt. Sie ist im Wortsinn verrückt. Es beginnt damit, dass die Menschen nicht zum Bahnhof rennen, um den Zug zu erreichen, sondern, wenn der Zug eingefahren ist, vom Zug wegrennen, um vor der schliessenden Schranke die Geleise zu passieren. Die enge Gasse heisst Wide Slop, die Berede Trappe ist nicht etwa eine breite Treppe, sondern besteht aus zwei schmalen Treppen, der Inhaber des Seemansheims trägt eine Brille ohne Gläser und man wird in aller Herrgottsfrühe vom ohrenbetäubenden Gellen einer Dampfpfeife aus dem Schlaf gerissen. «Seltsame Gegend», findet Orgelstimmer Pottjewijd. Im Seemannsheim findet man allerdings eher ihn seltsam. «Du reagierst aber mucksig auf Lärm», sagt ihm die Serviererin.
«Das Wort «mucksig» kannte ich nicht, aber ich wollte mir auch nicht anmerken lassen, das ich es nicht kannte, und fragte daher: «Warum trägt Herr Boetekees eine Brillenfassung ohne Gläser?»
«Das weiss kein Mensch», erwiderte Sjaan, «und ich rate dir, ihn auch nicht danach zu fragen, denn dann erntest du nur ein Grummeln und Brummeln.»
«Seltsame Gegend hier», sagte ich.
«Willst du damit etwa andeuten, dass andere Gegenden nicht seltsam sind? Das glaubst du doch selbst nicht.» Fröhlich summend wandte sie sich ab, sich selbst begleitend, indem sie mit einem Eierlöffel auf einen Teller trommelte.» (S. 38)
Kurz: die Menschen in der Hafenstadt sind wunderlich. Und die Geschichte ist es auch.
Maarten ’t Hart habe ich als Essayist kennengelernt: Sein Mozart-Buch «Mozart und ich» habe ich ebenso geschätzt wie sein Buch über Johann Sebastian Bach «Bach und ich». Mit Musik kennt Maarten ’t Haart sich aus – das ist auch in seinem neuen Roman «Der Nachtstimmer» spürbar. Er lässt seine Protagonisten aufs informativste über die Orgeln aus der Zeit von Bach fachsimpeln. Dabei hat Maarten t’Hart ursprünglich mit Musik gar nicht so viel am Hut: Er hat Biologie studiert und in den 70er Jahren an der Universität von Leiden Verhaltensbiologie unterrichtet. Seine Doktorarbeit hat er über das Verhalten von Ratten geschrieben. Und wenn Ihnen das noch nicht gruselig genug ist: Sein Vater war Totengräber. Vielleicht lesen sich seine Romane deshalb, im besten Sinn, wie Geschichten aus dem 19. Jahrhundert: athmosphärisch dicht und bevölkert von einem Personal, das aus einem Roman von Dickens entstammen könnte.
Das ist auch in «Der Nachtstimmer» so. Hauptfigur und Ich-Erzähler Gabriel Pottjewijd, der Orgelstimmer, sagt von sich selbst, dass er ein Langweiler sei. Er hat sich nie für etwas anderes interessiert als für Orgeln. Er hatte zu wenig Talent, um Organist zu werden, also wurde er Orgelstimmer. Pottjewijd ist Witwer: Seine Frau ist vor ein paar Jahren bei einem Zugunglück ums Leben gekommen.
Im Hafenstädtchen mit den seltsamen Menschen trifft er auf Lanna, ein Mädchen, das als geistig behindert gilt, aber den Orgelstimmern perfekt assistieren kann. Sie ist bereit, stundenlang an der Orgel zu sitzen und auf Zuruf eine bestimmte Taste am Manual zu drücken bis der Orgelstimmer, der im Inneren der Orgel herumklettert, die entsprechende Pfeife gestimmt hat. Pottjewijd merkt bald, dass Lanna keineswegs geistig behindert ist, sondern im Gegenteil auf ihre Weise genial. Wieder so ein Gegensatz in der seltsamen Stadt.
Die Mutter von Lanna ist Gracinha. Sie ist ebenfalls verwitwet: Ihr Mann, ein Hochseekapitän, kam bei einem Schiffsunglück ums leben. Gracinha stammt aus Brasilien, hat lange, schwarze Haare und ist zauberhaft schön. Allerdings kann ihre gute Laune rasch und unvorhersehbar umschlagen. Sie selbst bezeichnet sich deshalb als Xanthippe.
Orgelstimmer Pottjewijd verliebt sich in die brasilianische Schönheit – und deren Tochter verliebt sich ein kleines bisschen in Pottjewijd. Auf jeden Fall will die junge Lanna jetzt Orgelstimmerin werden und lässt sich alles erklären. Was sehr praktisch ist, denn auf diese Weise erfährt der Leser ebenfalls alles über das Stimmen von Orgeln.
Allerdings sind nicht alle im Städtchen glücklich über die Freundschaft (oder ist es Liebe?) zwischen dem hergereisten Orgelstimmer und der einheimischen Schönheit. Die allerdings keine Einheimische ist. Dass der Orgelstimmer ein Auge auf sie geworfen hat, spricht sich herum, als er sich eine portugiesische Bibel besorgt, mit der er sein Portugiesisch auffrischen will. Worauf sich im Ort herumspricht, dass der Orgelstimmer sich mit einer Bibel erfrischt und dass er sich in die Brasilianerin verliebt hat. Und das passt nicht allen. Jedenfalls wird der Orgelstimmer plötzlich verfolgt und erhält einen Drohbrief.
Auch das Stimmen läuft dieweil nicht leicht von der Hand, denn im Hafen ist es laut und unser Orgelstimmer hat ein empfindliches Gehör. Also verlegt er das Stimmen in die Abend- und Nachtstunden – daher der Titel. Wobei das «Nacht» nicht nur den Zeitpunkt meinen könnte, sondern auch das Objekt. Dass der Stimmen also nicht des nachts stimmt, sondern die Nacht. Denn seine Leidenschaft für die Königin der Instrumente schliesst Abgründe auf und bringt Licht ins Dunkel.
Jedenfalls: Eine ungemein unterhaltende Geschichte, die Sprache und Musik, Bibelfestigkeit und Ortsgebräuche aufs wundersamste miteinander verknüpft.
Maarten ‚t Hart: Der Nachtstimmer. Roman. Piper Verlag, 320 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-492-07043-0
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783492070430
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 31. August 2021, Matthias Zehnder
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