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Der Morgen

Publiziert am 8. Juni 2023 von Matthias Zehnder

Schneegestöber, früher Morgen, Berlin. Mitten im Kreisverkehr rund um die Siegessäule hält plötzlich ein Kleinlaster an. Ein Volvo Kombi kann nicht mehr bremsen und kracht in den Laster. Kunststück: alles eisglatt. Der Fahrer des Lasters steigt aus und flüchtet. Wenig später stellt sich heraus: Unter der Plane auf der Ladefläche des Lasters liegt die Frau des Gesundheitsministers. Nackt. Tot. Auf ihren Bauch hat jemand mit Blut eine Adresse geschrieben. Es ist die Privatadresse des Bundeskanzlers. Und das zehn Tage, bevor ebendieser Kanzler Gastgeber des G20-Gipfels in Berlin sein soll. Mit anderen Worten: Mehr Druck auf die Behörden geht nicht. Unter schärfster Geheimhaltung rollen die Ermittlungen an. Und dann veröffentlicht ein Onlineportal ein Film der Geschichte und die Hölle bricht los. Der neue Thriller von Marc Raabe überzeugt mit starken Bildern und einer packenden Story. Ich empfehle das Buch aber aus einem anderen Grund zur Lektüre. In meinem 157. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich diesen Thriller empfehle – es sei denn, Sie hätten jetzt schon zu wenig Schlaf.

Kein Zweifel: Marc Raabe versteht es, maximalen Druck aufzubauen. Die tote Frau des Gesundheitsministers. Die mit Blut auf ihren Bauch geschriebene Privatadresse des Bundeskanzlers. Und das zehn Tage vor dem G20-Gipfel. Das bringt selbst den deutschen Staatsapparat in den Overdrive. Und dann veröffentlicht auch noch ein Onlineportal Bilder der Leiche: «Shibuya-News» heisst die Seite. Sie zeigt nicht nur die Bilder, sondern veröffentlicht auch die Privatadresse des Bundeskanzlers und fragt, was der wohl mit der Geschichte zu tun habe. Klar, dass das Haus sofort umstellt ist von Journalisten, Kameras und Mikrophonen.

Der Fall ist so wichtig, dass der Präsident des Bundeskriminalamts Art Mayer zurück in den Dienst holt. Und das will etwas heissen: Art ist zwar einer der besten Ermittler des BKA, aber er hat kürzlich dem Präsidenten des BKA die Nase gebrochen. Das ist zwar verständlich, weil der mit Arts Frau geschlafen hat, aber in den meisten Ämtern trotzdem ein Grund für fristlose Freistellung. Das Problem: Art Mayer will mit dem BKA nichts mehr zu tun haben. Dass er sich trotzdem breitschlagen lässt, in diesem seltsamen Fall zu ermitteln, hat mit einem Erlebnis zu tun, das weit zurückliegt. Es hat mit einer Grenze zu tun, die er als Junge einmal überschritten hat. Und vielleicht hast es auch mit Nele Tschaikowski zu tun, einer jungen Kommissaranwärterin. Ihr Eifer erinnert Art wohl ein wenig an sich selbst. Aber da weiss er noch nicht, dass Nele die Nichte ebenjenes Polizeipräsidenten ist, dem er kürzlich die Nase gebrochen hat.

Das weist auch schon auf das eigentliche Thema dieses Thrillers: Grenzen und Angst. Ermittler Art Mayer hat immer wieder erlebt, dass die Justiz und die Polizei die Handhabe nicht haben, Täter zu verhaften und wegzusperren. Es ist paradox: Das Recht setzt der Gerechtigkeit Grenzen – und gute Anwälte machen sich das zu Nutzen. Mayer ist zwar als Polizist und Ermittler erfolgreich, eigentlich zweifelt er aber an dem System, zu dem er selbst gehört. Er geht eigene Wege, schert sich nicht um Regeln und Direktiven. Das gilt auch für diesen Fall, für den er von höchster Stellen in den Dienst zurückgerufen worden ist. Bloss: Ein Bulle, der eigentlich kein Teil des Systems mehr sein will, lässt sich nicht so einfach steuern. Dass merkt Martin Buchwald, Mayers Vorgesetzter, sehr rasch:

«‹Ich will wissen, ob du jetzt dabei bist.›
Art presste die Zähne aufeinander und nickte.
‹Das soll wohl Ja heißen, oder?› Buchwald sah ihn an, rechnete aber offenbar nicht mit einer Antwort. Stattdessen nickte auch er, wie um sich selbst zuzustimmen.
‹Verrätst du mir jetzt endlich, wer das zweite Opfer ist?›, knurrte Art.
‹Wenn wir hier fertig sind, dann bring ich dich zu ihr. Ach, und noch mal …› Buchwald hob mahnend den Zeigefinger; eine der Gesten, die Art am wenigsten an ihm leiden konnte. ‹Egal, was du tust: Denk an die Informationssperre. Marietta Althausers Name bleibt unter Verschluss. Henrik Westphals Name erst recht. Für Befragungen gilt: keine Fotos von seinem Haus, kein Bild von ihm, keine Namensnennung. Außer es geht über die Abteilung Sicherungsgruppe und wird von Reiter autorisiert. Kann ich mich auf dich verlassen?›
‹Was passiert, wenn ich mich nicht dran halte?›
‹Suspendierung›, sagte Buchwald eisig.
‹Hm. Verlockend›, meinte Art. ‹Dann weiß ich ja, wie ich kriege, was ich will.›
Martin Buchwald rieb sich müde das Gesicht. Erst jetzt wurde ihm klar, dass seine Standarddrohung bei Fehlverhalten hier völlig ins Leere lief.» (87f.)

Ermittler Art Mayer lässt sich also nicht mehr so einfach einhegen. Auch dann nicht, wenn der Bundeskanzler im Spiel ist. Oder vielleicht besser: Erst recht nicht, wenn der Bundeskanzler im Spiel ist. Das hat auch damit zu tun, dass Mayer als Jugendlicher aus Angst einmal eine Grenze massiv überschritten hat. Das ist sein dunkles Geheimnis. Niemand darf es erfahren, sonst ist Art nicht nur seinen Job los. Seither weiss Art Mayer, dass auch in ihm etwas lauert, vor dem er selber manchmal Angst hat. Nicht nur Art Mayer trägt ein solches Geheimnis mit sich herum. Auch der Bundeskanzler. Der Gesundheitsminister, dessen Frau getötet worden ist. Selbst die junge Nele Tschaikowski. Sie alle haben ihre Geheimnisse – und sie alle haben Angst.

Die Stärke des Thrillers von Marc Raabe sind die bildhaften Szenen. Raabe hat eigentlich kein Buch geschrieben, sondern einen Film. Der rollt beim Lesen im Kopf ab. Ganz ohne Spezialeffekte – und vielleicht gerade deswegen höchst effektvoll. Bilder wie das der Frau, die nackt und tot auf dem Laster vor der Siegessäule liegt, brennen sich einem ins Gedächtnis ein. Auch die Geschichte aus der Jugend von Art Mayer, die Raabe auf einer zweiten Zeitebene erzählt, ist so bildhaft geschildert, dass man die Szenen nicht so rasch wieder los wird. Es ist, wie wenn man sie in einem Film gesehen hätte. Nein: stärker, weil man die Bilder sich selbst auf seine innere Leinwand projiziert.

Das Buch mit dem schwarz gefärbten Schnitt und dem knalligen Cover sieht zwar aus wie ein Groschenkrimi von Bahnhofskiosk, es ist aber stark geschrieben und fährt ein wie beste Bücher aus der Buchhandlung. Wenn Sie ohnehin zu wenig Schlaf haben, rate ich deshalb dringend von der Lektüre ab.

Marc Raabe: Der Morgen. Thriller. Ullstein, 592 Seiten, 25.90 Franken; ISBN 978-3-86493-205-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783864932052

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 8. Juni 2022, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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