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Letzter Tipp: Eine unwahrscheinliche Begegnung
Der Mond über Jerusalem
«Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit», kommentierte der amerikanische Astronaut Neil Armstrong den Moment, als er 1969 als erster Mensch den Mond betrat. 500 Millionen Fernsehzuschauer verfolgten damals auf der ganzen Welt die Landung von Apollo 11. Aber war der Sprung für die Menschheit wirklich so gross? In seinem Roman «Mond über Jerusalem» schildert der israelische Autor Dori Pinto, wie fünf Menschen in Jerusalem den Tag nach dem Start von Apollo 11 erleben. Die fünf Menschen könnten unterschiedlicher nicht sein, trotzdem begegnen sie sich an dem Tag in Jerusalem. In der Erzählung von Dori Pinto entsteht ein Geflecht von Geschichten, die nur einen Fixpunkt haben: Nein, nicht den Mond, sondern Jerusalem. In meinem 124. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was diese Geschichten mit der Geschichte von uns allen zu tun hat.
«Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit» sei das, kommentierte Neil Armstrong, als er den kleinen Hüpfer von der Leiter der Mondlandefähre auf die Oberfläche des Mondes machte. Aber war das wirklich ein Sprung für die Menschheit? Schliesslich besteht die Menschheit aus den einzelnen Menschen, die auf der Erde leben. Und die fünf, die Dori Pinto in seinem Roman porträtiert, kümmern sich herzlich wenig um den gewaltigen Sprung.
Da ist zum Beispiel der siebenjährige Charlie. Sein Vater, ein Soldat der israelischen Armee, ist im Dienst getötet worden. Vermutlich im Sechstagekrieg. Seither schlafwandelt Charlie. Er steht in der Nacht im Schlaf auf und geht zum Beispiel auf den Balkon. Da setzt er sich und streckt die Beine durch das Geländer. Am Morgen wacht er frierend auf dem Balkon auf und weiss nicht, wie er da hingekommen ist. Am Tag, da die Medien über die Reise der amerikanischen Astronauten zum Mond berichten, lernt Charlie schwimmen.
Da ist Said, ein stummer Müllmann, der eigentlich nicht stumm ist, sondern vor vielen Jahren beschlossen hat, nichts mehr zu sagen. Er ist als Kind von Fahrenden aufgewachsen. Es waren zwei Familien, die mit einem Bären durchs Land tingelten. Die andere Familie hatte eine Tochter, Dschamila. Said und Dschamila wuchsen zusammen auf. Dann starb der Bär und mit ihm die Lebensgrundlage der Familien. Die Väter verschwanden, Said und Dschamila mussten sich alleine durchschlagen. Am besten ging das als hinkende und stumme Bettler. Also hörte Said auf zu reden. Jetzt steht er hinten auf der Plattform eines Müllwagens und beobachtet von da aus die Strassen von Jerusalem.
Da ist Beth, die eigentlich Elizabeth heisst, sich aber gerne auch Ursula nennt nach der Hauptfigur von «The Rainbow», einer Erzählung von D. H. Lawrence. Das Buch hat ihr Hausarzt Dr. Goldstein ausgeliehen, als sie ihn konsultierte, weil ihre Stimme versagte. Beth stammt aus Kanada, aus einem konservativen Elternhaus. Ihr Vater hat ihr keinerlei Freiheiten gewährt. Nach dem Schulabschluss ist Beth in einen Kibbuz in Israel geflüchtet und unterrichtet jetzt als Aushilfslehrerin Englisch an einer Schule in Jerusalem. Sie zitiert einen Satz aus der Erzählung von D. H. Lawrence, der die Überhöhung vom Mann, der zum Mond fliegt, auf den Kopf stellt: «If I were the moon, I know where I would fall down.» – Wenn ich der Mond wäre, wüsste ich, wo ich herunterfallen würde.
Da ist Chaim Zemach, der am Tag nach seiner Pensionierung in seinem Bett mit Atemnot und Herzschmerzen erwacht. Der pensionierte Buchhalter heisst eigentlich Hans Blumberg und stammt aus Deutschland. Er wollte Arzt werden, rasselte aber durch eine entscheidende Prüfung und entkam knapp dem Holocaust. In Israel wurde er Buchhalter bei der Histadrut, dem mächtigen Dachverband der Gewerkschaften Israels. Jetzt besucht er selbst einen Arzt und begegnet im Wartezimmer Beth, die von einem starken Sonnenbrand geplagt wird.
Und da ist der Schreiner Baruch, der als Kind aus Mostar floh. Er wurde auf der Überfahrt nach Haifa zur Waise: Sein Vater hat die Flucht nicht überstanden und ist im Meer geblieben. Das brach auch Baruchs Lebenswille. Statt im gelobten Land aufzublühen, liess er sich treiben. Er arbeitete als Reparaturschreiner, bis er einen Finger verlor. Jetzt arbeitet er als Hilfe in einer Bäckerei. Er umarmt fremde Frauen und entschuldigt sich danach. Er ist sich nicht bewusst, dass die Polizei ihn sucht. Beth wird vor ihm gewarnt.
Die Rahmenhandlung des Romans von Dori Pinto spielt an einem einzigen Tag in Jerusalem Mitte Juli 1969, also die amerikanischen Astronauten unterwegs zum Mond sind. Eingeschoben in die Erzählung der Gegenwart sind Rückblenden, in denen wir die Vorgeschichte der Figuren erfahren. Die fünf Lebensgeschichten sind kunstvoll miteinander verknüpft: Die Figuren begegnen sich gegenseitig auf den Strassen Jerusalems, im Wartezimmer, in der Bäckerei. Chaim Zemach hört den Müllwagen von Said. Charlie beobachtet Beth. Zudem fliegen Rabenvögel über Jerusalem und verknüpfen dabei die Lebenswelten der Protagonisten. Für sie ist nicht der Mond der Fixpunkt. Der gewaltige Sprung, den die Menschheit machen wird, wenn Neil Armstrong den Schritt auf den Mond macht, geht sie nichts an. Für sie ist Jerusalem der Fixpunkt: Zuflucht, Schicksal, Ausweg, Rettung – das ist Jerusalem.
«Der Mond über Jerusalem» ist ein leises Buch: Es ist kein Pageturner, aber es geht vielleicht gerade deshalb unter die Haut. Am Schluss des Buchs hört Charlie im Schwimmbad die 17-Uhr-Nachrichten. Der Sprecher teilt mit, dass die drei Astronauten im Raumschiff Apollo 11 ihren Weg zum Mond ohne Zwischenfälle fortsetzen. Und wir Leser realisieren: arme Astronauten. Es sind nämlich die Zwischenfälle, die das Leben ausmachen.
Dori Pinto: Der Mond über Jerusalem. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Kein & Aber, 400 Seiten, 31.90 Franken; ISBN 978-3-0369-5893-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783036958934
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Basel, 4. Oktober 2022, Matthias Zehnder
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