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Der letzte Sessellift

Publiziert am 26. April 2023 von Matthias Zehnder

Mit den Büchern von John Irving ist es, wie mit den Liedern von Mark Knopfler oder von Paolo Conte: Man erkennt sie sofort am Ton und an den Themen. Wer «Garp», «Owen Meany», die «Ciderhouse Rules» oder «Letzte Nacht in Twisted River» gelesen hat, erkennt in «Der letzte Sessellift» die Stimme und die Themen von John Irving sofort wieder. Auch in seinem 15. Roman geht es um eine überbordende Familiengeschichte, einen abwesenden Vater, Sex, körperliche Deformation und Geheimnisse. Und um Fröhlichkeit. Die Hauptfigur ist Adam, er ist Drehbuchautor und seine Gedankenwelt kommt der von Irving wohl sehr nahe. In Interviews sagte Irving denn auch, er habe für den Roman ganz aus sich geschöpft. Das Schreiben, das Skifahren, New England, Aspen, das sei «vertrautes Territorium». Und das gilt auch für seinen Roman: Für seine Leserinnen und Leser ist «Der letzte Sessellift» vertrautes Territorium. Es ist eine neue Geschichte, das schon, es sind neue Figuren, diesmal ist es eine queere Familie rund um Adam, der als einziger heterosexuell ist. Wieder spielt ein grosses Stück Literatur eine wichtige Rolle – diesmal ist es «Moby Dick» von Herman Melville. Wieder katapultiert ein inzestuöser Missbrauch den Helden aus seiner Kindheit hinaus in die «unendliche Dunkelheit», wie Irving schreibt. Kurz: Es ist ein typischer Irving. Übrigens sein längster bisher. In meinem 151. Buchtipp sage ich Ihnen, ob sich die Lektüre der über tausend Seiten lohnt.

Wenn es um John Irving geht, bin ich nicht wirklich neutral. Irving gehört zu den Säulenheiligen in meinem Bücherregal. Ich liebe seine Romane, die ausufernde Erzählweise, die sich mehr an Charles Dickens und dem 19. Jahrhundert orientiert als an unserer Zeit, die schrägen Figuren, die mäandernden Geschichten. Irving ist jetzt 81 Jahre alt. Sein letzter Roman «Strasse der Wunder», ist vor sieben Jahren erschienen. Die sieben Jahre hat er genutzt, um an «Der letzte Sessellift» zu arbeiten. Irving sagt, das sei sein letzter grosser Roman. Es ist auch sein längster Roman geworden. Auf Deutsch hat das Buch über 1000 Seiten – man kommt damit beim Lesen auch physisch an seine Grenzen: Das Buch ist ganz schön schwer.

Rita Braver: «John Irving: A writer’s life». CBS Sunday Morning, CBS, 23.10.2022

Hauptfigur des Buchs ist Adam Brewster. Er reiht sich ein in eine ganze Serie von vaterlos aufgewachsenen Irving-Figuren: Adams Mutter Rachel, genannt «Little Ray», ist passionierte Skirennfahrerin. Weil sie aber nur wenig mehr als eins Fünfzig gross ist, war sie in den Skirennen immer zu langsam, weil sie so wenig wiegt. So ist sie Skilehrerin geworden. Im Winterhalbjahr arbeitet sie in Aspen und lebt da mit ihrer Freundin Molly zusammen. In dieser Zeit muss Adam ohne Mutter auskommen: Er lebt bei Grossmutter Nana in einem Lehrerhaus auf dem College-Gelände in Exeter, New Hampshire. Seinen Vater kennt Adam nicht.

Auch dieses Setting wird Irving-Lesern bekannt vorkommen. Auf den nächsten 1000 Seiten begleiten wir Adam wie in einem Bildungsroman von den 40er Jahren bis in die Gegenwart. Adams Weg führt ihn von Neuengland über das New York der Reagan-Aera bis ins Amerika von Donald Trump und ins Exil nach Toronto, wo John Irving selbst seit 2014 lebt. Wie in «Garp», in «Owen Meany» oder in «Gottes Werk und Teufels Beitrag» lässt sich John Irving viel Zeit beim Erzählen seiner Geschichte. Er folgt allen Verästelungen der Familie von Adam und beschert uns erneut ein Buch voller schrulliger und manchmal abstruser Figuren. Adam selbst ist Drehbuchautor. Wie Garp, der Schriftsteller war, kommt Adam damit der Gedankenwelt von John Irving wohl sehr nahe.

Adam selbst sagt im Buch, er sei in erster Linie Schriftsteller… «…aber selbst wenn ich einen Roman schreibe, stelle ich mir alles bildlich vor – ich sehe die Geschichte ablaufen, als sei sie bereits verfilmt. Wie manche anderen Autoren auch habe ich die Titel und Plots von Romanen im Kopf, die ich zu meinen Lebzeiten nicht einmal mehr beginnen werde; wie Drehbuchautoren auf der ganzen Welt habe ich mir mehr Filme ausgedacht, als ich jemals schreiben werde; und wie viele habe ich Drehbücher geschrieben, die nie jemand verfilmen wird. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, mir nicht gedrehte Filme anzuschauen; die ganze Zeit tue ich das. Und mein Leben ist bloss ein weiterer dieser Filme. Dein Roman wird veröffentlicht, dein Drehbuch verfilmt – diese Bücher und Filme vergisst man bald. Man liest die Verrisse wie die guten Besprechungen, gewinnt vielleicht sogar einen Oscar; nichts davon hat Bestand. Ein ungedrehter Film jedoch lässt einen niemals los; einen ungedrehten Film vergisst man nicht.»

Wie in allen anderen Irving-Romanen ist das Buch auch voller unerwarteter Todesfälle. Da werden Verwandte vom Blitz erschlagen, unter einem entgleisten Zug begraben, in einem Comedy-Club erschossen oder von einem Lastwagen überrollt. Auch die letzte Sesselliftfahrt bezieht sich auf eine Reise mit zwei Leichen – mehr sie an dieser Stelle dazu nicht verraten.

Wie immer bei Irving spielen die Sexualität in all ihren Spielarten und der sexuelle Missbrauch eine zentrale Rolle im Buch. «Die Probleme, die wir damit haben, Brewsters zu sein, haben alle mit Sex zu tun», sagt Cousine Nora zu Adam. Die beiden haben keine Geheimnisse voreinander. Bis Adam von seiner Mutter geküsst wird, als sei er ihr Geliebter. «Wenn du alt genug bist, Adam, wirst du Geheimnisse haben», hatte Nora ihm gesagt. Nach dem Kuss ist er alt genug.: Jetzt hat er ein Geheimnis vor Nora. Sie selbst lebt übrigens mit einer stummen Freundin zusammen, auch das ein Motiv, das Irving-Leser kennen.

Wie Garp, Owen Meany und Homer Wells begleitet das Buch auch Adam beim Erwachsenwerden. Das ist gar nicht so einfach, weil von innen gesehen alles andere als klar ist, wann ein Mensch erwachsen ist.

«Als Kind denkt man, die Kindheit dauert zu lang. Man kann es nicht erwarten, erwachsen zu werden. Eines Tages ist das einfach passiert, man hat den Moment verpasst und versucht, es im Nachhinein zu begreifen. Sobald man vor Menschen, die man liebt, Geheimnisse hat, schläft man nicht mehr so tief wie ein Kind. Dann ist das Erwachsensein eingetreten, obwohl man noch viel erwachsener zu werden hat – ich zumindest. Als ich nicht mehr so tief schlief wie ein Kind, setzten meine Träume ein.» (S. 131)

Neben der epischen Geschichte sind es solche Sätze, die auch den neuen Roman zu einem typischen Irving werden lassen. Ich-Erzähler Adam erzählt nicht nur, er erklärt und kommentiert seine Geschichte auch. Und oft sind es diese Kommentare, mit denen man sich verbinden kann.

Rita Braver: «John Irving: A writer’s life». CBS Sunday Morning, CBS, 23.10.2022

Die literarischen Bezugspunkte bilden Herman Melville und Charles Dickens. Bei Melville sind es «Moby Dick» und «Bartleby der Schreiber», bei Dickens ist es diesmal «Grosse Erwartungen». Die Bücher sind nicht nur die Vorbilder für Irvings ausufernden Erzählstil, sie haben auch wichtige Auftritte im Roman. Grossmutter Nana liest dem kleinen Adam über drei Jahre hinweg «Moby Dick» vor. Auch damit bleibt Irving nahe bei sich selbst: Die letzten Worte von «Moby Dick» hat sich Irving auf den linken Unterarm tätowieren lassen: «only found another orphan». Auf dem anderen Unterarm steht «Princes of Maine, Kings of New England», die letzte Zeile von «Gottes Werk und Teufels Beitrag». Es sind jene Worte, die Dr. Larch und später Homer Wells den Weisenjungen jeweils vor dem Lichterlöschen zuruft, nach dem Vorlesen von «David Copperfield» von Charles Dickens.

Irving ist jetzt 81 Jahre alt. Ringen und Schreiben und das Ringen mit dem Schreiben haben sein Leben geprägt. Man merkt das dem Roman zuweilen an. Es ist kein leichter Wurf, Irving hat sich das Buch abgerungen. Man merkt das auch seinen Kernthemen an. Schon in «Garp» schrieb er über Transsexualität. Einer seiner Söhne erwies sich später als Frau und war dankbar dafür, dass ihr Vater all die Schlachten publizistisch für sie schon geschlagen hat. In «Der letzte Sessellift» geht Irving noch einen Schritt weiter: Hauptfigur Adam ist der einzige Hetero in einer queeren (und queren) Familie. Damit macht Irving bewusst den Hetero zum Outsider. Manchmal wirkt das auch etwas konstruiert. Das Schöne an einem Buch von Irving ist aber, dass es beim Lesen immer wieder sehr viel Spass macht (ich habe öfter laut gelacht) und man für die Ausdauer mit wunderbaren Sätzen, Beobachtungen und Kommentaren belohnt wird.

Wenn Sie noch nie ein Buch von John Irving gelesen haben, ist «Der letzte Sessellift» vielleicht nicht der beste Einstieg. Irving-Anfängern würde ich eher «Gottes Werk und Teufels Beitrag» empfehlen, dieses Buch ist politisch in den USA ja wieder sehr aktuell. Wenn Sie ein Irving-Aficionado sind, dann werden Sie das Buch gerne lesen. Wie bei den Liedern von Mark Knopfler oder Paolo Conte wird Ihnen manches darin bekannt vorkommen, und als Fan verzeiht man Irving auch die eine oder andere Länge.

John Irving: Der letzte Sessellift. Übersetzt von Peter Torberg. Diogenes, 1088 Seiten, 47 Franken, ISBN 978-3-257-07222-8

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257072228

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 26. April 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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Bildquelle:
Rita Braver: «John Irving: A writer’s life». CBS Sunday Morning, CBS, 23.10.2022: https://www.youtube.com/watch?v=NcinEm8bRh0