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Der Kuss des Kaisers

Publiziert am 16. März 2023 von Matthias Zehnder

Wien 1908. Kunstmaler Klimt verkauft Seiner Majestät, dem Kaiser von Österreich, «Der Kuss», ein Gemälde, das vor Gold nur so strotzt. Doch die Vorbereitungen zur Präsentation des neuen Prunkstücks kommen ins Stocken, als im Park von Schloss Belvedere eine kopflose Leiche gefunden wird. Polizeiagent Pospischil sieht sich mit heiklen Ermittlungen konfrontiert. Schloss Belvedere ist die Residenz von Thronfolger Franz Ferdinand und der will mit Zivilisten nichts zu tun haben. Und mit Klimt schon gar nicht. Rund um die Leiche und das berühmte Gemälde entspannt sich eine spannende Geschichte, die tief in die sozialen Verhältnisse in Österreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts blicken lassen. In meinem 145. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, welche Rolle die Moral dabei spielt – auch wenn die Geschichte, so betrachtet, vielleicht gar keine Moral hat.

Es gibt wenige Gemälde, die wirklich jedes Kind kennt. Die «Mona Lisa» von Leonardo da Vinci, die Frau mit dem geheimnisvollen Lächeln, ist so ein Bild. Dasselbe gilt für «Der Schrei» von Edvard Munch. Das Bild des schreienden Mannes ist heute auch ein Meme. Es dürften zwei der bekanntesten Bilder der Welt sein. «Der Kuss» von Gustav Klimt spielt in einer ähnlichen Liga. Das Gemälde zeigt ein umschlungenes Paar in einer Blumenwiese, umhüllt von reich verzierten Gewändern. Es ist üppig mit Gold-, Silber- und Platinblatt verziert. Heute kennt jedes Kind den «Kuss». Es ziert Agenden, T-Shirts, Poster und Buchzeichen.

1908 ist das Bild umstritten. Gegen den Willen von Thronfolger Franz Ferdinand kauft K. u. k. Amtssekretär Josef Krzizek im Juni 1908 dieses Bild im Auftrag Seiner Majestät, Franz Josef I., dem Kaiser von Österreich. Und zwar für sagenhafte Fünfundzwanzigtausend Kronen, bar auf die Hand. Und das für ein Bild, das noch nicht einmal fertiggestellt ist. Einen kleinen Vorbehalt beinhaltet der Kaufvertrag. Allerdings ist es nicht der Kaiser, der Bedenken äussert, sondern Kunstmaler Klimt. Er möchte sich zuerst die Räumlichkeiten im Unteren Belvedere begutachten. Klimt behält sich das Recht vor, den Verkauf bei ungenügender Aufstellungsqualität und Sicherheitsbedenken rückgängig zu machen.

Amtssekretär Josef Krzizek ist also unter Druck. Am Drücker ist nicht etwa sein Arbeitgeber, seine Majestät der Kaiser, sondern Maler Klimt. Und dann ist da auch noch Thronfolger Franz Ferdinand. Er ist bis heute als Thronfolger bekannt, weil er den Thron nie besteigen konnte: Franz Ferdinand ist 1914 in Sarajevo jenem Attentat zum Opfer gefallen, das den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Dieser Franz Ferdinand also hat einen ganz anderen Kunstgeschmack als der Kaiser. Niemals hätte Franz Ferdinand die Räumlichkeiten im unteren Schloss Belvedere für moderne Kunst zur Verfügung gestellt. Die Bilder der modernen Maler hält Franz Ferdinand nämlich für Kokolores. Er findet die moderne Malerei obszön. Der gute Amtssekretär Krzizek sieht sich gezwungen, die modernen Bilder, die er für den amtierenden Kaiser ankauft, vor dem künftigen Kaiser zu verstecken.

In diese angespannte Stimmung im Belvedere platzt die zerstückelte Leiche eines Mannes. Sozusagen. Erst findet sich in einem Brunnen eine Hand, dann eine zweite, eine gezielte Suche bringt den Rest des toten Mannes ans Tageslicht. Bloss der Kopf bleibt unauffindbar. Eine Katastrophe. Zum Glück weilt Thronfolger Franz Ferdinand in Ungarn auf der Jagd. Doch dann erleidet seine Frau eine Fehlgeburt, Seine Hoheit eilt nach Hause und trifft da einen Hausstand in grösster Aufregung zwischen Mord und Malerei. Denn die Leiche soll nicht nur vor dem Thronfolger verborgen bleiben, sondern auch vor Klimt. Der hatte ja schon ohne toten Mann im Brunnen Sicherheitsbedenken.

Polizeiagent Pospischil beginnt mit seiner Labrador-Hündin im Park von Schloss Belvedere herumzuschnüffeln. Im wörtlichen Sinn. Und die pomadigen Beamten zu befragen. Die geben sich zwar alle militärisch korrekt, aber auch sehr zugeknöpft. Und der Thronfolger will die ganzen Zivilisten von seinem Gelände werfen. Die Polizei hat bei ihm nichts zu suchen. Polizeiagent Pospischil lässt sich davon aber nicht abhalten und dröselt mit seiner Labrador-Hündin langsam und beharrlich die Geschichte auf.

In ihrem Krimi rund um Klimt kontrastiert Christine Neumeyer detailreich das Leben der Aristokraten und ihrer Hofschranzen auf Schloss Belvedere mit dem mühevollen Leben der einfachen Leute. Angelpunkt ist dabei Erna Kührer, die in der Galerie im Unteren Belvedere putzt und den Herrn Krzizek nicht nur beruflich kennt. Ihr Mann hat keine Arbeit, sie muss die Familie durchfüttern. Das sind der Mann, Tochter Klementine, Zwillinge und ein ungeratener Sohn. Erna wehrt sich deshalb nicht gegen Krzizeks Avancen und hat auch nichts dagegen, als der sie ins Obere Belvedere zum Aushelfen schickt. Da haben die Dienstleute nämlich Durchfall, der Haushofmeister hat deshalb um Hilfe gebeten.

Nicht nur der Prunk des Adels kontrastiert mit den schrecklich ärmlichen Verhältnissen des Volkes. Auch die Moral ist im Oberen Belvedere eine andere als in der Realität. Thronfolger Franz Ferdinand ist schon die nackte Haut auf den Bildern von Klimt zu viel. Ausserhalb seines Schlosses regiert nicht die Moral, sondern der Stand. Zwar gibt es ein Gesetz, das Mädchen und Frauen schützen sollte. Der Titel eines Grafen und die Stellung eines Amtssekretärs wiegen aber schwerer als alle Moralvorstellungen. Das ist die bittere Botschaft, die im «Kuss des Kaisers» steckt. Abgesehen davon bietet das Buch beste Unterhaltung mit Wiener Schmäh und viel Lokalkolorit. Das Bittere aber bleibt. Trotz Klimt und Blattgold.

Christine Neumeyer: Der Kuss des Kaisers. Ein historischer Wien-Krimi. Picus Verlag, 274 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-7117-2136-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783711721365

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 16. März 2022, Matthias Zehnder

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