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Der Kaninchenfaktor

Publiziert am 4. Januar 2022 von Matthias Zehnder

Der finnische Autor Antti Tuomainen ist eine Art Buster Keaton der Literatur: Ohne eine Mine zu verziehen, tischt er einem die haarsträubendsten Geschichten auf. Sein letzter Roman «Klein-Sibirien» handelte von einem Meteoriten, der in Nordfinnland eingeschlagen ist. Er wird zur Sicherheit im Militärmuseum des Dorfs aufbewahrt und da bewacht. Unter anderem von Joel, dem Pfarrer des Dorfs. Dessen Frau Krista hat ihm eben mitgeteilt, dass sie schwanger ist. Er weiss aber, dass er seit einem Afghanistan-Einsatz unfruchtbar ist. Er kann Krista aber nicht Ehebruch vorwerfen, ohne ihr zu gestehen, dass er schon lange von seiner Unfruchtbarkeit weiss. Jetzt sitzt er im Militärmuseum und bewacht diesen Meteoriten, für den sich auch die Russenmafia interessiert. 

Die Hauptperson in seinem neuen Roman «Der Kaninchenfaktor» ist Versicherungsmathematiker  Henri Koskinen. Seine Welt der berechenbaren Risiken und Wahrscheinlichkeiten gerät innert weniger Tage gehörig durcheinander, als er zuerst seine Stelle bei einer Versicherung verliert und kurz danach als Alleinerbe seines verstorbenen Bruders einen Abenteuerpark erbt. Einen Abenteuerpark, der zwar gut läuft, aber bis unters Dach verschuldet ist. Und das bei Männern, die mit äussert schlagenden Argumenten aufwarten, wenn es um das Eintreiben der Zinsen geht.

Eine verrückte Geschichte, in der die Wahrscheinlichkeit auf den Kopf gestellt wird und der Kater des Helden nicht zufällig Schopenhauer heisst. Aber dazu gleich mehr. 

Die Versicherungsmathematik berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis eintritt. Wie oft Menschen in ihrem Haus ausrutschen zum Beispiel. Oder wie häufig sie glühende Kohlen in den Müll werfen oder mit Jetskis ineinanderkrachen. Wie oft sie sich auf einen Stuhl stellen und etwas suche, was sich hinter der Blumenvase auf dem obersten Regal befindet. Für einen Versicherungsmathematiker ist das alles eine Frage von Wahrscheinlichkeiten und das heisst: von Zahlen und Fakten.

Henri Koskinen ist so ein Versicherungsmathematiker. Er ist zufrieden mit seinem Leben. Er lebt mit seinem Kater Schopenhauer in einer kleinen Wohnung. Der Name des Katers verdeutlicht, wie rational Henri die Welt sieht: Für Schopenhauer ist die Welt berechenbar. Henri widmet sich deshalb seinen Berechnungen und hält nicht viel vom Geschwätz im Büro. Seinem Chef sagt er: «Ich will nur, dass alles Sinn ergibt», sagte ich. «Mathematik verlangt danach. Sie ist immer konkret. Sie vermittelt unmittelbar Information. Ich weiss nicht, wozu wir die ganze Aufregung und das kindische Getue brauchen, meiner Meinung nach ist das ohne jeden Nutzen. Wir brauchen Vernunft und Information. Beides kann ich liefern.» Leider sieht sein Chef das anders. Er setzt auf den Austausch unter den Mitarbeitenden, die emotionale Verbindung – und entlässt Henri Koskinen. 

Über Nacht löst sich dessen geordnetes Leben in Luft auf. Und dann taucht da auch noch ein Anwalt auf, der ihm eröffnet, dass sein Bruder soeben gestorben sei und ihn, Henri, zu dessen Alleinerben eingesetzt habe. Zum Erben des Abenteuerparks MeinDeinFun. 

Henri kann es nicht glauben, dass ihn das unordentliche, unstete Leben seines Bruders einholt. Plötzlich sitzt er in dessen Büro, liest und rechnet sich durch Stapel liegen gelassener Rechnungen und versucht herauszufinden, wie es um den Abenteuerpark steht. Die gute Nachricht: Der Park läuft gar nicht so schlecht. Die schlechte Nachricht: Sein Bruder hat ihm mit dem Park nicht nur die grosse Rutsche, das Schildkrötenrennen und den bekletterbaren Wasserfall hinterlassen, sondern auch Hunderttausende Euro Schulden. Und zwar nicht bei einer Bank, sondern bei Männern, die mit dicken, schwarzen SUVs anfahren und die Schulden mit schlagenden Argumenten persönlich eintreiben wollen.

Und da ist noch etwas, das Henri aus der Bahn wirft: Sie heisst Laura und ist eigentlich Künstlerin. Sie arbeitet als Geschäftsführerin des Parks und malt in ihrer Freizeit Bilder, in denen Henri sich komplett verliert. Henri versteht das alles nicht, weil es nicht im mindesten logisch ist. Seine Gefühle verwirren ihn – und bald auch seine Handlungen.

So stürzt sich unser Versicherungsmathematiker Hals über Kopf in einen Kampf um eine Frau, sein Vermögen und den Nachlass seines Bruders. Er kämpft mit seinen Gefühlen, mafiösen Gangstern und einem maliziösen Kommissar, der dazu neigt, unverhofft im Park aufzutauchen und scheinbar harmlose Fragen zu stellen. Dabei müsste der Kommissar gar nicht so weit suchen. Die Leiche liegt in der Kühltruhe und die Mordwaffe steht vor aller Augen: Es ist nämlich das Kaninchen, das dem Buch den Titel gab. Dieses Kaninchen wird für Henri, wie weiland Peter White bei Alice im Wunderland, zum Schlüssel in sein eigenes Wunderland, in dem nicht mehr Mathematik und Wahrscheinlichkeit regieren, sondern Mut und Tatkraft, absurde Ideen – und, wie es sich für einen rechten Roman gehört, die Liebe. Ach ja.

Kurz: Antti Tuomainen ist ein filmreifer und höchst unterhaltender Roman gelungen. «Filmreif» darf man dabei übrigens wörtlich nehmen: Amazon Studios hat offenbar die Rechte am Buch gekauft und will «The Rabbit Factor» mit Steve Carell verfilmen. Zu recht, kann man da nur anfügen.

Antti Tuomainen: Der Kaninchenfaktor. Rowohlt, 352 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-498-00132-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498001322

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 4. Januar 2022, Matthias Zehnder

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