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Der Himmel über Kalian

Publiziert am 23. November 2022 von Matthias Zehnder

Ich lese nur wenig Fantasy-Romane. Ich kenne und empfehle natürlich die Grossen des Genres: Tolkien und Lewis Carroll, Terry Pratchett und Joanne K. Rowling. Manche zählen im deutschen Sprachraum Michael Ende zu Fantasy – so oder so ein grosser Geschichtenerzähler mit viel Phantasie. Seit ich «Der Himmel über Kalian» gelesen habe, gehört für mich auch Christopher Zimmer zu den empfehlenswerten Fantasy-Autoren. Der Schweizer mit deutschen Wurzeln ist natürlich viel weniger bekannt, seine Geschichten verdienen es aber, in demselben Bücherregal zu stehen wie die der ganz grossen. In meinem 131. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum ich den neuen Roman von Christopher Zimmer für ein wunderbares Lese- und vor allem auch Vorlesebuch halte.

Physik und Biologie, Geschichte und leider auch die Mathematik beschreiben die Welt, wie wir sie kennen. In dieser Welt spielt ein grosser Teil der Literatur: historische und biografische Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Seit jeher gibt es aber auch eine andere, eine phantastische Welt. Es ist die Welt der Träume (und der Alpträume), der Mythen und Märchen, die von phantastischen Gestalten bevölkert wird. Von Zauberern und Drachen, von Zwergen und Riesen. So eine Welt ist Kalian.

Erfunden hat die Welt Christopher Zimmer, im deutschsprachigen Raum seit den 90er Jahren bekannt als Fantasy-Autor. Lange hat er nichts mehr publiziert, jetzt knüpft er mit «Der Himmel über Kalian» an frühe Erfolge wie «Die Steine der Wandlung» an. Die Geschichte beginnt im Wald, wo die Nelvins leben: gefiederte Vogelwesen mit einem Schnabel und zwei Beinen, wie man ihnen vielleicht auf den Bildern von Hieronymus Bosch begegnet. Nur dass sie hier nicht Teil eines Alptraums sind, sondern ein friedliches, fröhliches Volk, das in den Bäumen lebt. Unter ihnen finden sich Ibi, ein Nelvin-Mädchen, und die drei Jungs Piro, Tork und der gefrässige Klipper.

Und dann fällt eines Tages ein Mensch vom Himmel: Es ist Dhug Ansken, ein junger Mann, der als Leichter auf der Thusis arbeitet, einem Propter. Das sind Luftschiffe, die von Gasballonen getragen und von Sonnwindsegeln angetrieben werden. Er ist über Bord gegangen und in den Wald gestürzt. Zum Glück haben die Bäume seinen Sturz gebremst, so hat er überlebt. Sein Luftschiff wurde von dunklen, schattenhaften Kreaturen angegriffen, die sich in Kisten auf dem Schiff verbargen. Käptn Skane Blaken hat ihn über Bord gestossen und wohl so gerettet. Mit der Hilfe der Nelvins gelingt es Dhug, die Thusis zu finden und wieder flott zu machen. Mit seinen neuen Freunden segelt er in ein Abenteuer, das viel grösser und gefährlicher ist, als die ungewöhnliche Besatzung des Luftschiffs ahnen kann.

In Kalian leben nicht nur Menschen und Nelvins, sondern auch Varda, das sind Buchhalterzwerge. Ihr Rat der Revisoren regiert die Hauptstadt Thal’Adin. Die Zwerge handeln im Auftrag der Oru, aussterbende Riesen, die eigentlichen Herrscher von Kalian. Gemeinsam organisieren sie den Handel der Gilde. Im Zentrum stehen dabei die Frachter: Luftschiffe, die mit den Sonnwinden segeln. Sie werden also nicht vom Wind angetrieben, sondern von Sonnenteilchen, die sie mit speziellen Segeln einfangen. Diese Segel sind die grosse Sünde, auf der die ganze Wirtschaft von Kalian beruht: Sie werden aus den Flügeln der Trossen hergestellt. Das sind Vogelwesen, die in Massenhaltung gezüchtet und ihrer Flügel wegen geschlachtet werden. Der Nelvin Ibi bricht es das Herz, als sie das herausfindet.

Dieses Mitgefühl der kleinen Ibi wird zum zentralen Motiv des Romans. Sie leidet nicht nur mit den ausgebeuteten Trossen, sondern fühlt mit allen Wesen mit. Sogar mit dem mächtigen Igen Stenten Morwig, dem Ersten Sekretär der Gilde und damit Herrscher über Thal’Adin.

«Seine Hände zitterten. Das Blut wich ihm aus den Lippen und sein Gesicht wurde aschfahl. Und dieser Schock ging wie eine Welle von ihm aus, die auch Ibi erreichte. Sie fuhr herum und sah ihn, sein graues Gesicht und das Entsetzen in seinen Augen.
Ibi sprang auf und kam auf ihn zugelaufen. «Was ist mit Euch?», stiess sie besorgt hervor. «Geht es Euch nicht gut? Kann ich Euch helfen?» «Ihr wollt mir helfen?», stammelte er mit erstickter Stimme. «Nach allem, was ich Euch angetan habe?» «Was hat das miteinander zu tun?», fragte sie erstaunt.
Was das miteinander zu tun hatte? Morwig traute seinen Ohren nicht. Hatte das wirklich keine Bedeutung für sie? Wusste sie nicht, was Rache hiess? Nein, offensichtlich nicht. Oder wenn, dann war es nicht so stark wie ihr Mitleid. Und allmählich begann er zu verstehen, was das Besondere an ihr war. Etwas, das eigentlich gar nicht so besonders war oder es zumindest nicht sein sollte: Mitgefühl.» (S. 283)

Dieses Mitgefühl von Ibi ist, wie einst bei Parzival, der erlösende Faktor, der das erstarrte System der Gilde in Kalian in Bewegung bringt.

Christopher Zimmer ist mit «Der Himmel über Kalian» eine wunderbare Geschichte gelungen. Die Technik der Sonnwindsegler ist bis ins Detail ausgedacht. Darauf beruht das ganze Handelssystem der Gilde, was sich für die Geschichte als zentral erweist. Die verschiedenen Wesen, die Kalian bevölkern, wachsen einem nach kurzer Zeit ans Herz. Es ist ein Buch, das ich mit Bedauern zur Seite gelegt habe, weil ich mir wünschte, dass die Geschichte weitergeht.

Es ist  spannend zu lesen, es wird hart gekämpft und gerungen um die Zukunft des Landes und doch ist die Geschichte nie böse. Man merkt, dass das Mitgefühl, das Ibi auszeichnet, auch Christopher Zimmer eigen ist. Das Buch eignet sich deshalb besonders gut zum Vorlesen. Zuhören können Kinder jeden Alters ab etwa zehn Jahren. Achten Sie aber darauf, dass Sie sich beim Vorlesen nicht festlesen. Es könnte sein, dass Ihnen sonst eine kurze Nacht bevorsteht.

Christopher Zimmer: Der Himmel über Kalian. Fantasy-Roman. Books On Demand, 548 Seiten, 28.90 Franken; ISBN 978-3-7568-3271-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783756832712

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 23. November 2022, Matthias Zehnder

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