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Der Fluch

Publiziert am 6. April 2022 von Matthias Zehnder

Fritz Uhland liegt ermordet auf dem Boden in seinem Wohnzimmer. Das ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen ist Uhland Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Zum anderen steht auf dem Unterarm des Professors die Zahl 2015, post mortem eingraviert mit einem Skalpell. Daneben finden sich 13 Striche – oder sind es Runen? Seltsam ist auch, dass die «Neue Zürcher Zeitung» schon am Morgen des Mordtags die Todesanzeige des Professors veröffentlicht hat. Titel: «Wer Wind sät, wird Sturm ernten, Hosea 8,7». Und dann ist da noch dieser Tote im Schrebergarten. Er ist offenbar vor 50 Jahren erschossen und da begraben worden. Mit einer Auschwitz-Nummer am Arm. Er erinnert Gerichtsarzt Sokrates an die Gräuel, welche die Nazis an den Juden verübt haben. Hat das alles einen Sinn? Wie kann Gott so viel Böses zulassen? Oder beweist das Böse in der Welt, dass es Gott gar nicht gibt? Wolfgang Wettstein verknüpft in seinem neuen Krimi «Der Fluch» auf intelligente Weise die Ermittlungen rund um mysteriöse Mordfälle am Theologischen Institut mit existenziellen Fragen. In meinem Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, nein, nicht wer der Mörder ist, sondern welche Fragen dabei im Zentrum stehen.

Sokrates ist Gerichtsarzt bei der Kriminalpolizei Zürich. Eigentlich heisst er Max Noll, aber alle nennen ihn nur Sokrates. Er ist sympathisch, etwas schrullig, hat einen kleinen Buckel und einen grossen Zahlenfimmel. Seine Frau ist vor ein paar Jahren gestorben, er lebt allein in einer Altstadtwohnung in Zürich. Seine Tochter Maria arbeitet als Reporterin beim Schweizer Fernsehen. Sie berichtet manchmal über die Mordfälle, die ihr Vater auf dem Obduktionstisch hat. Natürlich interviewt sie ihn nicht dazu. Das wäre unprofessionell. Trotzdem sprechen Vater und Tochter manchmal über die Ermittlungen und die Informationen fliessen dabei nicht nur in eine Richtung. Denn Maria ist eine gute Rechercheurin.

Das ist auch im vorliegenden Fall so. Maria interessiert sich für die Geschichte, weil der Tote im Schrebergarten eine Auschwitz-Nummer am Arm trägt. Der Tote ist zwar schon vor 50 Jahren erschossen worden, die Nummer ist dennoch sichtbar, weil sich die Leiche im lehmigen Garten kaum zersetzt hat. Also fliegt Maria mit ihrem Kameramann und Freund Leo nach Auschwitz und recherchiert da im Archiv. Das eröffnet Autor Wolfgang Wettstein die Möglichkeit, die Vergangenheit des Opfers auszuleuchten und die Geschichte der Judenvernichtung in Deutschland zu erzählen. Und das führt zu einer der zentralen Fragen im Roman: Wie kann Gott das zulassen? 

Samuel Hollenstein, der Dekan am Theologischen Institut, hält praktischerweise dazu eine Vorlesung, als die Polizei ihn befragen will: «Warum gibt es all das Böse in der Welt, die Schmerzen, die Gewalt? Warum verhindert Gott das Leid nicht mit seiner Allmacht und Güte? Diese klassische Theodizee-Frage, die Rechtfertigung Gottes angesichts des Leids in der Welt, wurde bereits vom griechischen Philosophen Epikur im 4. Jahrhundert vor Christus treffend formuliert.» Samuel Hollenstein, Professor für Dogmatik, Mitte fünfzig, Goldrandbrille, braungebrannt und graugelockt, blickte in die Runde. Zwei Dutzend Theologiestudentinnen und -studenten sassen im Hörsaal in der Kirchgasse 9, einem alten Gemäuer, das am Grossmünster angebaut war. Im historischen Gebäude, errichtet aus mächtigen Sandsteinquadern, dreigeschossig mit Rundbogenfenstern, war die Theologische Fakultät untergebracht.

«‹Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht›», zitierte Hollenstein Epikur. «‹Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Oder er kann es und will es nicht: Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist. Oder er will es nicht und kann es nicht: Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott. Oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?›» (S. 144)

Es ist diese Frage, die den Kriminalroman rund um den ermordeten Auschwitz-Insassen hochaktuell macht. Denn es ist diese Frage, die sich wohl viele Menschen heute stellen, wenn sie in die Ukraine schauen, nach Butscha, wo die russische Armee wahllos Zivilisten ermordet hat. Wie kann Gott so etwas zulassen? Wie konnte Gott zulassen, dass Nazideutschland sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet hat? Ist das nicht der Beweis dafür, dass es Gott nicht gibt? Dass das Böse die Welt regiert?

Sokrates greift diese Frage später auf, nachdem er zur zweiten Leiche im Buch gerufen worden ist. Fritz Uhland, Professor für Altes Testament an der Uni Zürich, an einem heiteren Vormittag ermordet in seiner eigenen Wohnung. Es ist keine Gewalteinwirkung sichtbar. Sokrates findet schnell heraus, dass Uhland vergiftet wurde. Es war Blausäure. Blausäure in Gasform – so, wie es als Gas aus Zyklon B austritt. Zyklon B ist ein Substrat, das die Nationalsozialisten von 1942 bis 1944 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zur Tötung von Juden eingesetzt haben. Das kann kein Zufall sein. Oder?

Am Tag danach sitzt Sokrates, wie fast jeden Morgen, bei einem Espresso im Blumenladen von Sara Hadorn und fragt sie: «Glauben Sie an das Böse?» Sara warf ihren Kopf in den Nacken und lachte. Ihre Locken wirbelten herum. Dann blickte sie ihn belustigt an. «Das ist aber eine heitere Frage, so früh am Morgen. Sie stellen mir keine Gretchen-, sondern eine Fäustchenfrage. Warum wollen Sie das wissen?» «Viele Menschen glauben an das Gute im Menschen. Ich nicht. Gestern habe ich die Leiche eines Theologieprofessors obduziert. Er wurde mit Zyklon B vergast. Wie eine Million Juden in Auschwitz. Solche Verbrechen beweisen die Existenz des Bösen.» (S. 188)

Sara diskutiert mit Sokrates also zum Espresso über das Böse. Das ist ergibig, weil Sara bis vor Kurzem Professorin für Mathematik war. Sie ist aber aus dem akademischen Hamsterrad ausgestiegen und hat einen Blumenladen eröffnet. Sie erklärt Sokrates die Sicht von Augustinus. Der ist der Meinung, dass es das Böse nicht gibt. «Das Übel ist nur ein Mangel an Gutem. Es existiert selbst gar nicht. Wie Kälte ein Mangel an Wärme ist. Für Augustin war das Böse keine eigenständige Macht, die dem Guten feindlich gegenüber steht, er glaubte nicht an ein Reich des Bösen.» (S. 189)

Es sind solche Diskussionen, die den Roman von Wolfgang Wettstein wertvoll machen. Er versteht es geschickt, philosophische und theologische Fragen mit einer spannenden Handlung zu verweben, die den Mord am jüdischen Volk im Zweiten Weltkrieg, den Handel mit Raubkunst und Fluchtgütern und aktuelle, faschistoide Tendenzen miteinander verbindet. Er beschreibt seine Themen und die Szenerie präzis. Man merkt, dass er über zwanzig Jahre lang bei Fernsehen SRF gearbeitet hat. Zum einen sind seine Recherchen genau und die Beschreibungen stimmig. Zum anderen ist da Maria, die Tochter von Sokrates, die bei SRF angestellt ist. Bei den Beschreibungen ihrer Arbeit kann Wettstein sein Wissen über die Art und Weise, wie SRF arbeitet, voll ausspielen. Auch Wettsteins neuer Beruf ist spürbar: Er studiert jetzt nämlich Theologie. Entsprechend präzise sind nicht nur die philosophisch-theologischen Fragen behandelt, auch das das theologische Seminar in Zürich, die Arbeitsweise der Professoren und des Sekretariats sind akkurat geschildert. 

Es ist mit anderen Worten ein Krimi, der im besten Sinn erfüllt, was ich von den Büchern verspreche, die ich Ihnen hier vorstelle: das Buch ist ebenso intelligent wie unterhaltend. Und das noch aus einem weiteren Grund: das Buch enthält gleich mehrere Liebesszenen, die ebenso intelligent wie erotisch beschrieben sind. Und das muss man erst einmal schaffen.

Wolfgang Wettstein: Der Fluch. Kriminalroman. TVZ Theologischer Verlag Zürich, 346 Seiten, 30.90 Franken; ISBN 978-3-290-18445-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783290184452

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 6. April 2022, Matthias Zehnder

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