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Der Flakon

Publiziert am 5. Oktober 2023 von Matthias Zehnder

König Friedrich II. von Preussen ist bei uns auch bekannt als Friedrich der Grosse, als erster König der Aufklärung, der die Folter abschaffte und die Religionsfreiheit einführte. Sein Preussen galt als tolerant und offen gegenüber Einwanderern und religiösen Minderheiten wie Hugenotten und Katholiken. «Jeder soll nach seiner Façon selig werden», proklamierte der König 1740 – der Satz ist uns bis heute geläufig und wir bewundern den «alten Fritz» dafür. Allerdings hatte Friedrich auch andere Seiten. Am 29. August 1756 überfiel er ohne vorherige Kriegserklärung mit seiner preussischen Armee das Kurfürstentum Sachsen. In seinem neuen Roman schildert Hans Pleschinski, wie sich das in Dresden und Leipzig anfühlte. Friedrich August, Herrscher über Sachsen und Polen, und sein Premierminister Heinrich von Brühl setzen sich nach Warschau ab. Das Land kapituliert. Das ganze Land? Nein: Eine Frau gibt nicht auf: Reichsgräfin von Brühl, die Frau des Premierministers, bleibt in Dresden und sinnt auf Rache. Sie will Friedrich den Grossen vergiften. In meinem 174. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, was diese schier unglaubliche Geschichte so lesenswert macht.

An was denken Sie, wenn von einem Weltkrieg die Rede ist? Klar: An den Ersten oder den Zweiten Weltkrieg. Schon vor den beiden verheerenden Kriegen im 20. Jahrhundert gab es aber Kriege, welche die ganze Welt umfassten. Der Siebenjährige Krieg von 1756 bis 1763 war so ein Weltkrieg: Alle europäischen Grossmächte kämpften sieben Jahre lang um Land und Einfluss in Europa, Nordamerika, Indien und Afrika und um die Seewege dazwischen. Die europäischem Grossmächte spalteten sich in zwei Lager: Auf der einen Seite standen Preussen und Grossbritannien, auf der anderen Seite Österreich, eine ganze Phalanx von Monarchien sowie Frankreich, Russland und Spanien. Die Folgen des Kriegs sind in Nordamerika bis heute ersichtlich: Die Engländer besiegten die Franzosen und eroberte alle Gebiete östlich des Mississippi. Deshalb sprechen die US-Amerikaner heute englisch und nicht französisch.

In Deutschland wollte Preussen sich als Grossmacht etablieren. Unsere Geschichtsbücher berichten in diesem Zusammenhang mit bewunderndem Unterton von Friedrich II. Der König von Preussen gilt als Vertreter des «aufgeklärten Absolutismus». Er selbst bezeichnete sich als «ersten Diener des Staates». Mir ist dabei vor allem das Wort «aufgeklärt» geblieben – dass auch Friedrich II. ein absolutistischer Herrscher war, habe ich irgendwie ausgeblendet. In seinem Roman erzählt Hans Pleschinski, wie es sich anfühlte, wenn man Friedrich im Weg stand.

Im Weg stand ihm vor allem die Nummer zwei im Land, das Kurfürstentum Sachsen, das im Wesentlichen aus Dresden und Leipzig bestand. Preussen stand für Militär und Zucht und Ordnung, Sachsen für Kultur, Wissenschaft und Handel. Für den Reichtum in Sachsen sorgte das Porzellan aus Meissen und die Messe in Leipzig. Friedrich der Grosse war dieses reiche, kulturaffine Sachsen ein Dorn im Fleische. Interessanterweise war nicht der Kurfürst von Sachsen, Friedrich August II., der Intimfeind von Friedrich dem Grossen, sondern Heinrich Reichsgraf von Brühl, Sachsens umtriebiger Premierminister. Dieser Graf Brühl hatte eine schier unglaubliche Ämterfülle. Er war Geheimer Kabinett- und Konferenzminister ihrer Majestät, Obersteuer-Kammerdirektor der Stifte Naumburg und Merseburg, Kapitular des Hochstifts Meissen und Propst zu Budissin, Obersteuereinnehmer von Zeitz, Direktor der Meissner Manufaktur und Generalkommissarius der Baltischen Meerpforten. Graf von Brühl galt als Medici, Richelieu und Rothschild seiner Zeit in einer Person. Entsprechend war sein Palast ein kleines Versailles, üppig mit Kunst, Teppichen, Gemälden und Skulpturen ausgestattet.

All seine Kultur nützte Graf Brühl aber wenig, als am 29. August 1756 Preussen ohne Vorwarnung und ohne Kriegserklärung in Sachsen einmarschierte. Ein staatlicher Überfall. Siebzigtausend Preussen, darunter viele Söldner, waren in drei Kolonnen in Sachsen eingedrungen. Die kaum halb so vielen sächsischen Soldaten konnten ihnen an mehreren Fronten kaum Widerstand leisten. Zumal Sachsens Armee zwar als die einzige in Europa galt, die vollständig mit Perücken ausgestattet war. Darüber hinaus hatte das Kurfürstentum aber zugunsten anderer Prachtentfaltung und der Künste am Militär gespart. «So erkennt alle Welt, dass wir einzig den Frieden wollen», hatte Premierminister von Brühl die militärische Schwäche erklärt. Friedrich dem Grossen war das allerdings egal, innert sechs Wochen hatte er Sachsen erobert. Kurfürst Friedrich August II. und sein Premierminister flohen nach Polen, wo der Kurfürst praktischerweise noch König war. Ihre Frauen liessen die beiden Helden in Dresden zurück. Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte, die Hans Pleschinski uns erzählt.

Im Palais Brühl brütet die vierzigjährige Reichsgräfin Maria Anna Franziska von Brühl auf Rache. Auch ihr Palais ist erobert. Nur ihre Gemächer haben die Soldaten verschont. Trotzdem: Für Gräfin von Brühl ist Dresden verloren. Händler und Gesandtschaftspersonal haben die Stadt schon verlassen, um in die Heimat zu entkommen. Sachsen braucht keine Botschafter und Dolmetscher mehr. Kaum noch ein Sänftenträger trottet durch die Gassen. Viele der besonders kräftigen Männer werden in die preussische Armee gepresst. Die Brühl überlegt sich, wie sie das Blatt wieder wenden kann. Und sie hat eine Idee.

Unter Pseudonym und nur von einer treuen Kammerzofe begleitet, macht sie sich mit der ordinären Post auf den Weg nach Leipzig. Da soll das Ungeheuer, König Friedrich der II. logieren. Die Brühl will Friedrich vergiften. Das erklärt auch den Titel des Romans: Der Flakon enthält das Gift der Gräfin. Sie selbst kann nicht damit rechnen, zum König vorgelassen zu werden. Sie hat aber gehört, dass Friedrich in Leipzig das Gespräch mit Gottsched und Gellert suchen wolle, den beiden intellektuellen Lichtgestalten Sachsens. Gräfin Brühl will Friedrich zuvorkommen, sich mit Gottsched oder Gellert treffen und einen der beiden dazu anstiften, Friedrich Gift in den Kaffee zu schütten.

Also macht sich die Gräfin auf die Reise. Der Hauptteil des Buchs schildert kenntnisreich und höchst unterhaltsam, wie die noble Dame in der ordinären Postkutsche von Dresden nach Leipzig rumpelt und dabei zum ersten Mal in ihrem Leben mit ihrem Volk auf Tuchfühlung gerät. Als Leser erfahren wir dabei, wie es den Menschen in den Kriegen, von denen unsere Geschichtsbücher handeln, wirklich ging. Von der Verzweiflung der kleinen Leute, ihrem Aberglauben, dem Arzt in der Poststation, der mehr als einfachen Ernährung, dem Rumpeln der Kutsche, die mehr als einmal von einem Wanderer überholt wird. Gräfin Brühl merkt schnell, dass es um Sachsen, ja um ganz Deutschland nicht gut bestellt ist. In einer Poststation macht der Wirt seinem Ärger lautstark Luft:

«Ich bin nur ein einfacher Mann. Aber es hapert an allem in Deutschland, andere Rechte in Sachsen als in Preussen. Wenn ich zu meinem Oheim nach Erfurt fahre, muss ich an zehn Grenzen meinen Pass vorzeigen, was ich bei mir habe, verzollen, und ich komme mit zehn Sorten Münzen heim. Die einen verbünden sich mit Frankreich, die anderen mit England, und unsere feinen Fürsten verwandeln alles in ein Schlachtfeld. Wird das Geld knapp, verkaufen sie ihre Landeskinder als Soldaten ins Ausland. Und im Reichstag wird gestritten und gekungelt. Lübeck legt sich mit Hamburg an. Ist Katholen und Evangelen am Wohl des Ganzen gelegen? Das Kaiserhaus kümmert sich mal und mal nicht. Es kocht doch mehr und mehr sein österreichisch-habsburgisches Süppchen. Und womöglich hat der Preussenkönig recht, die Nation neu zu vereinen und alles zu straffen. Auch dabei hat der Bürger natürlich nichts zu melden. Wie überall in Europa. Es bräuchte vielleicht einen Umsturz und eine Klarheit. Es ist Matthei am Letzten mit dem Deutschen Reich. Es ist Spielball aller grossen und starken Reiche rundum.» (S. 206f.)

Schon ohne Krieg steht es nicht gut um das Deutsche Reich. Als Leserin, als Leser begleiten wir Gräfin Brühl, die inkognito als Gräfin Clam-Gallas reist, und sehen ihr Land und ihre Leute durch ihre Augen. Hans Pleschinski erzählt in leichtem Plauderton und ganz konkret von den Sorgen, Nöten und Sehnsüchten der Zeit, sei das der flüchtige Kuss eines Soldaten oder der Hunger, den die Reisenden quält, das harte Bett in der Poststation oder die Kälte, die alles durchdringt. Auf wenigen Seiten erfahren wir auf diese Weise viel mehr über die Zeit als aus unseren Geschichtsbüchern. Zumal die Geschichte bekanntlich immer von den Siegern geschrieben wird. Also aus der Perspektive von Friedrich dem Grossen und nicht aus der Sicht der burschikosen Gräfin.

Hans Pleschinski: Der Flakon. Roman. C.H. Beck, 360 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-406-80682-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406806827

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Basel, 5. Oktober 2023, Matthias Zehnder

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