Video-Buchtipp
Nächster Tipp: Paula oder Die sieben Farben der Einsamkeit
Letzter Tipp: Martha und die Ihren
Der falsche Vermeer
Sie erinnern sich sicher an den Fall Beltracchi, den grössten Kunstfälscherskandal der Nachkriegszeit: Der deutsche Kunstmaler Wolfgang Beltracchi hatte jahrelang Gemälde von über 50 Künstlern der klassischen Moderne gefälscht. Dabei hat er Maler wie Max Ernst oder Fernand Léger nicht einfach kopiert, sondern neue Werke im Stil seiner Vorbilder geschaffen und so, wie er sagte, Lücken in deren Werk aufgefüllt. Jahrelang ging das gut, doch 2010 flog Beltracchi auf und wurde verhaftet. Dieser Wolfgang Beltracchi war nicht der erste, der sich die Eitelkeit von Kunstexperten und die Gier des Kunstmarks zu Nutzen machte. Der niederländische Kunstmaler Han van Meegeren hat bereits in den 30er- und 40er-Jahren neue Werke eines alten Meister kreiert. Dabei hat er sich niemand Geringeren vorgenommen als Jan Vermeer. Zehn Jugendwerke des grossen holländischen Meisters hat Han van Meegeren gefälscht und sie in den 1930er und 1940er Jahren für sehr viel Geld an grosse niederländische Museen und bekannte Privatsammler verkauft. Sein prominentester Kunde war Nazi-Reichsmarschall Hermann Göring. Nach dem Krieg wurde van Meegeren deshalb in den Niederlanden wegen Kollaboration angeklagt. Weil er beweisen konnte, dass er Göring einen falschen Vermeer untergejubelt hatte, wurde er zum holländischen Nationalhelden. Diese Geschichte erzählt Patrick van Odijk in einen Roman verpackt. «Der falsche Vermeer» heisst das Buch. In meinem 209. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum das Buch auch dann lesenswert ist, wenn Sie von Anfang an wissen, dass das Vermeer-Bild eine Fälschung ist.
Han van Meegeren, geboren 1889 im niederländischen Deventer, war schon als Kind ein begabter Zeichner, litt aber unter einem äusserst autoritären Vater. Der verbot dem jungen Han, die Kunstakademie zu besuchen. Immerhin durfte Han in Delft Architektur studieren. Der berühmteste Sohn der Stadt Delft ist das Malergenie Jan Vermeer. Ihm eiferte Han van Meegeren nach. Wie sein Vorbild zeichnete und malte er Porträts vor allem von Damen. Die moderne Kunst war ihm ein Gräuel. Künstlerisch war van Meegeren ein Reaktionär: Er träumte von der Malerei des 17. Jahrhunderts, dem goldenen Zeitalter der niederländischen Kunst. Der Erfolg blieb ihm aber verwehrt, mindestens mit seinen eigenen Bildern. Denn Han van Meegeren entdeckte, dass im Werk von Jan Vermeer eine Lücke klafft. Es fehlt das Frühwerk des Malers – und es gibt keine biblischen Motive. Also machte sich van Meegeren daran, seinem Vorbild unter die Arme zu greifen und die Lücken im Werk von Jan Vermeer zu füllen. So kam es dazu, dass die Fachwelt in den 30er-Jahren eine ganze Reihe Gemälde von Jan Vermeer «entdeckte». Die beiden bekanntesten Werke waren «Christus und die Jünger in Emmaus» und «Christus und die Ehebrecherin». Dieses Bild der Ehebrecherin wurde berühmt, weil es für viel Geld während des Zweiten Weltkriegs von Reichsmarschall Hermann Göring gekauft worden war. Han van Meegeren wurde deshalb nach dem Krieg in Holland als Kollaborateur verhaftet. Schliesslich hatte er niederländisches Kulturgut an die Nazis verhökert und sich dabei eine goldene Nase verdient. Um sich zu retten, gab Han van Meegeren den Betrug zu – und wurde über Nacht zum niederländischen Helden, der Göring über den Tisch gezogen hat.
[werbung[
Das ist der reale Hintergrund, auf dem der Roman von Patrick van Odijk basiert. In seiner Version heisst der Maler Jan van Aelst. Er ist reich – und versoffen. Von Morphium ganz zu schweigen. Sein Geld hat er gut angelegt: Er besitzt über 50 Häuser in Amsterdam und bewohnt ein grosses Stadtpalais. Das nützt ihm allerdings grad nichts: Zu Beginn des Romans sitzt Jan van Aelst in der Patsche. Die Amerikaner haben Görings Kunstschätze entdeckt. Darunter befindet sich ein prächtiges Gemälde von Vermeer. Samt Kaufquittung: Göring hat das Gemälde ganz offiziell in Amsterdam gekauft. Für die unglaubliche Summe von 1 650 000 Gulden. Der Titel des Gemäldes: «Christus und die Ehebrecherin».
Kapitein Rosendahl, Kommissar bei der Militärverwaltung, verhaftet Aelst, weil er mit den Nazis Geschäfte gemacht haben soll. Er wirft ihm vor, Reichsmarschall Hermann Göring ein Gemälde von Jan Vermeer verkauft zu haben. Das ist in den Niederlanden etwa so schwerwiegend, wie wenn er die Kronjuwelen verscherbelt hätte. Doch Jan van Aelst leugnet: Er habe einen Vermeer vermittelt, aber nicht an Göring, sondern an einen holländischen Kunsthändler. Er habe das Bild einer jüdischen Familie abgekauft und ihr so die Flucht in die USA ermöglicht. Wer diese Familie war, will er nicht sagen, weil er versprochen hat, sie nicht zu verraten. Bis dahin decken sich Roman und Realität.
Patrick van Odijk erzählt die Geschichte aber nicht einfach nach. Er hat eine junge Reporterin erfunden, die sich auf die Recherche über den reichen Kunstmaler und seine Nazifreunde stürzt. Margriet van Hettema, kurz Meg, hat als junge Frau während des Kriegs bei der gleichgeschalteten Tageszeitung Telegraaf begonnen. Heimlich hat sie daneben aber für das Blatt des holländischen Widerstands fotografiert und geschrieben: Die illegale Untergrundzeitung Het Parool brachte ihre Reportagen unter Pseudonym. Nach dem Krieg ist Het Parool jetzt eine der wichtigsten Zeitungen und Meg arbeitet als eine der wenigen weiblichen Journalistinnen auf der Redaktion. Auch wenn die meisten wissen, dass sie im Krieg der rasende Reporter war, muss sie sich erst noch durchsetzen. Sie braucht deshalb unbedingt gute Geschichten – und ist bereit, dafür einiges zu tun.
Patrick van Odijks Buch ist deshalb nicht nur ein Roman über einen Kunstskandal, sondern auch eine Auseinandersetzung mit den Mechanismen der Medien und die Aufarbeitung der niederländischen Besatzungszeit. Er schildert gut nachvollziehbar die Achterbahn, auf die Reporterin Meg und ihre Journalistenkollegen van Aelst schicken. Zuerst ist er der böse Kollaborateur. Er ist in den Niederlanden ein Promi, weil der vor vielen Jahren das Rehkitz der niederländischen Prinzessin zeichnete. Reproduktionen dieser Zeichnung von «Bambi» hängen seither in jedem holländischen Wohnzimmer. Meg titelt deshalb: «Bambis Vater ein Verräter».
«‹Das Rehkitz› machte Johannes van Aelst berühmt. Er malte das Bambi der damals zehnjährigen Prinzessin Juliana als Zeichenlehrer. Es wurde das bekannteste Bild in den Niederlanden und hängt in fast jedem Haushalt. Jetzt sitzt van Aelst wegen des Verdachts der Kollaboration im Gefängnis. Er soll ein bisher unbekanntes Gemälde des Delfter Meisters Jan Vermeer an den Nazimörder Hermann Göring verkauft haben. US-Soldaten fanden das Bild mit dem Namen ‚Christus und die Ehebrecherin‘ in Görings Besitz. Das berichtete The Times am 22. Mai. Unsere Reporterin Margriet van Hettema hat die Spur des Bildes bis nach Amsterdam verfolgt.» (Seite 116)
Kommissar Rosendahl setzt den Kunstmaler unter Druck. Er soll ihm endlich verraten, wem er das wertvolle Bild abgekauft hat. Doch der Maler hält dicht. Er will seine jüdischen Freunde nicht verraten. Die Strasse tobt. Sie hält den Maler für einen Kollaborateur. So kurz nach dem Krieg kennen die Niederländer kein Pardon mit Landsleuten, die mit den Nazis zusammengearbeitet oder sogar von ihnen profitiert haben. Dann wird auch noch ruchbar, dass van Aelst in seinem Stadtpalais rauschende Feste gefeiert hat. Als in den Niederlanden die Menschen hungerten, liess er von halbnackten Mädchen Delikatessen servieren. Die Strasse und die Presse ist sich einig: van Aelst ist ein übler Nazifreund und Kollaborateur.
Doch dann kommt die Wende: Meg findet heraus, dass es sich bei dem Gemälde von Vermeer um eine Fälschung handelt. Über Nacht mutiert van Aelst zum Helden: Jetzt ist er plötzlich der patriotische Holländer, der Hermann Göring über den Tisch gezogen hat. Doch damit ist die Achterbahn nicht zu Ende. Einige Kollegen von Meg sind eifersüchtig auf die Erfolge der jungen Reporterin. Sie finden heraus, dass sie einmal als eines der leichtbekleideten Mädchen an einer Party von van Aelst teilgenommen hat. Sie wird von der Story abgezogen und mutiert vom Star zur Persona non grata, van Aelst wird wieder zum Nazi-Freund. Doch eine ehrgeizige Reporterin lässt sich nicht so einfach abservieren. Meg recherchiert weiter. Und was sie dann herausfindet, verschlägt nicht nur ihr den Atem.
Patrick van Odijk zeigt in seinem Roman, wie die Sucht der Medien nach Scoops und Schlagzeilen und das Schwarzweiss-Denken der Massen sich gegenseitig hochschaukeln und zu dieser Achterbahn der Gefühle und Verurteilungen führen. In Wirklichkeit ist der Maler weder Schuft noch Widerstandskämpfer. Er hat jüdischen Familien und hungernden Niederländern geholfen und gleichzeitig mit Göring Geschäfte gemacht. Er verabscheute die Nazis, fand ihre reaktionäre Kunstauffassung aber gut und richtig. Als Kommissar Rosendahl den Maler wieder einmal besucht, gibt der zu, dass er in einer Nazi-Galerie ausgestellt hat.
«Ich konnte da nicht einfach wegbleiben. Außerdem, im Mesdag auszustellen, mein Gott! Davon träumt jeder Künstler.»
Rosendahl unterbrach van Aelst. «Auch wenn die Ausstellung von Nazis organisiert wurde?»
Der Maler lächelte. «Gerade weil es die Nazis waren. Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn ich gesagt hätte ‹Mit euch will ich nichts zu tun haben, da komme ich nicht.› Ich bin doch nicht blöd.»
«Also haben Sie von den Nazis profitiert», setzte Rosendahl nach.
«So ein Quatsch. Ich habe mich ihnen nur nicht ausgeliefert. Wie viele andere brave Niederländer auch. Schon vergessen?» Van Aelst stand auf und ging zu einem geschnitzten Buffetschrank, wo er sich einen Genever eingoss. «Wollt ihr auch einen? Wird so langsam anstrengend mit euch. Und das noch vor dem Frühstück.» Er kippte das Glas in einem Zug hinunter. «Natürlich waren die Nazis Verbrecher. Aber in Kunstdingen waren sie weniger verkehrt als diese ganzen verrückten Modernisten der letzten 20, 30 Jahre. Sie liebten die gute, ehrliche und handwerklich saubere Kunst, wie wir sie hier in den Niederlanden seit Jahrhunderten fertigen und nicht diese chaotische oder kubistische Kleckserei der Moderne. Das hat mir gefallen. Sie schätzten meine Bilder und stellten sie aus. Warum sollte ich da etwas dagegen haben? Deshalb bin ich noch lange nicht so schlimm wie viele andere. Jedenfalls nicht schlimmer als all die braven niederländischen Beamten, die auch unter den Nazis einfach weitergearbeitet haben. Die Lehrer und Straßenbahnfahrer. Die Geschäftsleute, Hoteliers und Restaurantbesitzer, die mit den Nazis gutes Geld verdient haben. Natürlich gab es ein paar Mutige, die sich gewehrt haben. Viele haben mit ihrem Leben dafür bezahlt. Aber ich bin kein Held. Ich habe das Beste daraus gemacht und ich habe dabei niemandem geschadet.» Lächelnd stand der Maler in seinem Salon und deutete auf die Tür. «Jetzt würde ich mir gerne von Nelly Lunch bringen lassen. Ihr seid nicht eingeladen.» (Seite 263)
[werbung[
Nein, van Aelst ist kein Held. Trotzdem wird er einem bei der Lektüre fast schon sympathisch, gerade weil er kein einfacher Mensch ist und sich zuweilen in seinen Widersprüchen verstrickt. Das gilt übrigens auch für Reporterin Meg: Auch sie ist keineswegs die reine Heldin. Sie ist bereit, wenn nicht alles, so doch viel für eine gute Schlagzeile zu tun. Im Unterschied zum Kunstmaler hat sie aber während der Besatzung Leib und Leben riskiert, als sie für die illegale Untergrundzeitung Het Parool arbeitete. Die gibt es übrigens wirklich. Sie ist tatsächlich im Widerstand gegen die Nazis entstanden und ist bis heute eine gut gelesene Tageszeitung.
Patrick van Odijk: Der falsche Vermeer. Roman. Pendragon Verlag, 472 Seiten, 36.90 Franken; ISBN 978-3-86532-864-9
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783865328649
Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/
Basel, 13. Juni 2024, Matthias Zehnder
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
PS: Wenn Sie keinen Buchtipp mehr verpassen möchten, abonnieren Sie meinen Newsletter: Sie erhalten jeden Freitag ein Mail mit dem Hinweis auf den aktuellen Buchtipp, einen Sachbuchtipp und den Wochenkommentar. http://www.matthiaszehnder.ch/abo/