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Der Fall San Marino

Publiziert am 26. Juli 2023 von Matthias Zehnder

Sommer, Ferien, Reisezeit. In meiner literarischen Sommerserie entführe ich Sie mit einer Reihe von spannenden Romanen und Krimis an interessante Orte auf der ganzen Welt. Diese Woche führt die Reise nach San Marino, dieser seltsamen Enklave in der Emilia-Romagna, nahe der Adria-Küste. Hier wird ein Mann ermordet aufgefunden. Die einzige Spur führt ins Hotel «Il Cavaliere» in Cervia, wo er kurz zuvor zu Gast war. Das Hotel gehört Paolo Ritter, einst Ermittler in Deutschland, jetzt Geschäftsführer im eigenen Haus. Der seltsame Fall konfrontiert Ritter mit der Vergangenheit – mit seiner eigenen und mit der Deutschlands – und mit seiner Familie. Und dann stellt ihm auch noch seine Freundin Lucia ein Ultimatum. So kann es gehen. In meinem 163. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum sich die literarische Reise nach San Marino lohnt.

San Marino ist wie Andorra und Monaco eine EU-Enklave: ein unabhängiger Miniaturstaat, der zwar den Euro benutzt, aber nicht Mitglied der EU ist. San Marino rühmt sich, die älteste Republik der Welt zu sein. Geografisch ist es nach dem Vatikan und Monaco der drittkleinste Staat Europas. Seit 2008 gehören der Monte Titano und das historische Zentrum von San Marino zum Unesco-Weltkulturerbe. Regiert wird San Marino seit 1243 jeweils von zwei Staatsoberhäuptern, den «Capitani Reggenti», die alle sechs Monate neu gewählt werden. Damit will die kleine Republik eine gefährliche Machtballung verhindern – und das erinnert natürlich ein wenig an die römischen Konsuln.

Jahrelang war San Marino so etwas wie eine kleine Schweiz mitten in Italien: Der Zwergstaat galt als Steuerparadies und zog viel Geld an, natürlich auch Gelder von zweifelhafter Herkunft. Im Jahr 2009 beschloss der italienische Wirtschafts- und Finanzminister Giulio Tremonti, den Steuersumpf von San Marino trockenzulegen. Die «NZZ» schrieb damals, Tremonti habe die Republik als «Höhle von Ali Baba» bezeichnet und mit einer Steueramnestie «einen Belagerungsring um San Marino gezogen». Mit Erfolg, zumindest aus italienischer Sicht: Die Banken von San Marino verloren fast die Hälfte ihrer Einlagen. Die Wirtschaftsleistung des kleinen Landes brach dramatisch ein.

Die Touristen interessiert das wahrscheinlich wenig: Für sie ist San Marino ein malerischer, historischer Ort. Das Wahrzeichen des Staates sind die drei Türme von San Marino, die auf dem Gipfel des Monte Titano stehen. Ganz oben steht der Guaita-Turm. Er dominiert die mittelalterliche Festung und die ganze Stadt. Hinter dem Turm fällt der Fels senkrecht ab. Unter dieser Felswand findet im Buch von Dani Scarpa die Polizei von San Marino die Leiche von Lauro Bernasconi. Das einzige, was die Beamten über ihn herausfinden: Der Tessiner war bis kurz zuvor Gast im Hotel «Il Cavaliere» im nahen Cervia. Also klopfen sie bei Paolo Ritter an.

Der führt zwar das kleine Hotel, ist aber ursprünglich Ermittler: Er hat seinen Job beim deutschen BKA an den Nagel gehängt und das Hotel seines Bruders übernommen. «Der Fall San Marino» ist bereits der dritte Band, in dem Paolo Ritter ermittelt. Wobei: So richtig ermitteln darf er in Italien nicht. Er sieht sich gezwungen, auf das Wissen aus seinem alten Beruf zurückzugreifen, als er feststellt, dass sein Bruder tiefe in eine Geschichte verstrickt ist, an deren Ende Paolo Bernasconi das Leben verliert. Bloss hat Ritter keine Ahnung, um was für eine Geschichte es sich dabei handelt. Er weiss nur: Wenn er es nicht bald herausfindet, könnte es ihm so ergehen wie Bernasconi.

Ritters Ermittlungen führen ihn in die Vergangenheit. In jenes Jahr 2009, als der italienische Staat San Marino mit einer Steueramnestie belagerte und so austrocknete und die gerissenen Geschäftemacher von San Marino neue Wege suchten, Geschäfte zu machen. Aber auch seine eigene Vergangenheit kommt Ritter in die Quere. Das Zerwürfnis mit seinem Bruder, der Tod ihrer Eltern. Seine Versuche, ausgerechnet in der Zeit der Pandemie das kleine italienische Hotel zu retten.

Ritter ist eine spannende Figur. Er leidet am sogenannten hyperthymestischen Syndrom: Er ist in der Lage, sich an jeden einzelnen Tag und jedes Ereignis in seinem Leben zu erinnern. In seinem Kopf fehlt der Filter, der im Gedächtnis gewöhnlich veranlagter Menschen dafür sorgt, dass sie Unwichtiges und Unangenehmes vergessen. Paolo Ritter hat also eine Art Superkraft: ein extrem ausgeprägtes episodisches Gedächtnis. Das nützt ihm im Umgang mit Ganoven – zum Beispiel dann, wenn sie ihn unauffällig beschatten wollen. Dass Ritter sich an jede einzelne Situation, die er erlebt hat, an jedes Gefühl, das er empfunden, und an jedes Gespräch, das er geführt hat, genau erinnern kann, das ist aber auch ein Fluch. Denn sein Gedächtnis hält eben nicht nur die schönen Momente fest, sondern auch das Belastende, Unangenehme, Schmerzhafte. Zum Beispiel das Zerwürfnis mit seinem Bruder.

Seine Partnerin Lucia, die im Hotel für die Küche zuständig ist, hat gelernt, mit Paolos Macken und Marotten zu leben. Um ihn vor sich selbst zu schützen, hat sie ihm das Versprechen abgenommen, sich nie wieder in Ermittlungen zu stürzen. Trotzdem beginnt Paolo heimlich, Nachforschungen über den Toten von San Marino anzustellen. Lucia bemerkt das natürlich sofort. Es ist auch nicht zu übersehen, denn Paolo wird bedroht. Und reagiert entsprechend emotional.

Das mit den Gefühlen ist nicht seine Sache. Er kann sich zwar an jeden Moment seines Lebens erinnern, checkt aber in der Gegenwart oft nicht, was Sache ist. Vor allem, wenn es um Gefühle geht – und ganz besonders, wenn es um seine Liebste geht. Sie sehen: Da braut sich etwas zusammen.

Dani Scarpa ist mit dem neuen Band um den spleenigen Paolo Ritter ein spannender Krimi gelungen, in dem man viel über die stolze Republik San Marino erfährt. Ein Land, über das ich bisher so gut wie nichts wusste.

Dani Scarpa: Der Fall San Marino. Paolo Ritter ermittelt. Rowohlt Polaris, 352 Seiten, 24.90 Franken; ISBN 978-3-499-01012-5

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499010125

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 26. Juli 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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