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Der Diener des Philosophen

Publiziert am 24. Oktober 2023 von Matthias Zehnder

Immanuel Kant ist für die Philosophie, was Johann Sebastian Bach für die Musik war: Kant war ein Erneuerer des Denkens, ein geistiger Gigant. Seine Schriften prägten die gesamte westliche Philosophie und sind bis heute aktuell. Umso erstaunlicher ist, dass Kant ein kleiner, recht unscheinbarer Mann gewesen sein muss: Er lebte zurückgezogen und ist zeitlebens kaum über Königsberg hinausgekommen. Er hat die Welt von seinem Schreibtisch aus verändert. Er blieb Junggeselle. Als Haushälter stellte er Martin Lampe an, einen ehemaligen Soldaten. Das Verhältnis zwischen dem Diener und seinem Philosophen ist das Thema des neuen Romans von Felix Heidenreich. Er zeichnet es als Kampf zwischen dem ungebildeten, aber lebenserfahrenen Lampe und dem genialen, aber im Alltagsleben etwas spinnerten Philosophen. Pikant ist das, weil das Werk von Kant um die Urteilskraft kreist. Diener Lampe spricht seinem Dienstherrn ebendiese Urteilskraft in mancherlei Beziehung ab. In meinem 177. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum nicht nur Philosophen Freude haben werden an diesem Roman.

Wer Philosophie studiert, beisst sich früher oder später an den Texten von Immanuel Kant die Zähne aus. Kant hat zwar auf Deutsch geschrieben, sein Deutsch ist aber gleichzeitig so präzise und so kompliziert und verschachtelt, wie wenn es Latein wäre. Wir haben uns im Studium damals damit beholfen, Kant auf englisch zu lesen. Das war einfacher, weil sich die Sätze auf englisch nicht so stark verschachteln lassen. Kant war Rationalist: Für ihn war die Vernunft das höchste Gut des Menschen. Der Empirismus, also das Wissen aus der Erfahrung, war ihm ein Gräuel. Er hat die Möglichkeiten des Wissens und des Denkens ausgelotet, abgemessen und kartiert. Dabei hat er ein präzises Denkgebäude aus Begriffen entwickelt.

Mit seinem Denken hat Immanuel Kant die Welt verändert. Gelebt hat er von 1724 bis 1804 in Königsberg, zeitlebens hat er den Ort kaum je verlassen. Damals gehörte Königsberg zu Ostpreussen, heute heisst der Ort Kaliningrad und ist eine russische Exklave an der Ostsee zwischen Polen und Litauen. Als Mensch muss Kant steif und zurückhaltend gewesen sein. Er blieb auch bei seinen Freunden mit einer einzigen Ausnahme beim förmlichen «Sie». Seinen Tagesablauf hatte er streng geregelt. Diener Lampe musste ihn um fünf Uhr früh wecken und hatte den Befehl, ihn nicht länger schlafen zu lassen, auch wenn Kant sich gegen das Gewecktwerden wehren ihn zum Teufel schicken sollte.

Wilhelm Weischedel hat in «Die philosophische Hintertreppe» sein Porträt von Kant mit «Die Pünktlichkeit des Denkens» überschrieben. Weischedel berichtet, die Anwohner von Königsberg hätten sogar ihre Uhren nach dem Spaziergang von Kant gerichtet. Im Haus des Philosophen musste alles präzis an seinem Ort liegen. Weischedel schreibt, wenn auch nur eine Schere oder  ein Federmesser in ihrer gewohnten Richtung nur ein wenig verschoben oder gar ein Stuhl an eine andere Stelle des Zimmers gerückt worden war, sei Kant in Unruhe und Verzweiflung geraten. Nichts ärgerte Kant mehr als wohlmeinende Freunde, die die Regelmässigkeit seines Alltags störten. Übrigens war Immanuel Kant nur geistig ein Riese, körperlich war er klein und zerbrechlich. Er war nur gerade 1.57 Meter gross und hatte alles andere als eine robuste Gesundheit.

Als er 38 Jahre alt war, stellte Immanuel Kant einen Diener ein: Martin Lampe war ein ehemaliger Soldat des preussischen Heers, also vermutlich körperlich robust, aber ungebildet. 40 Jahre lang besorgte Lampe den Haushalt von Kant und betreute das Genie vom Aufstehen um fünf Uhr morgens bis zur Nachtruhe, die Kant pünktlich um zehn Uhr Abends zu beginnen pflegte. Er war um Garderobe, Ernährung und Sicherheit seines Hausherrn besorgt, wimmelte Bittsteller ab, empfing und bewirtete Gäste. Als Kant 78 Jahre alt war, entliess er nach 40 Jahren Dienst seinen treuen Diener, weil Lampe trank. Der Alkoholmissbrauch führte wohl zu Tobsuchtsanfällen und das störte den eminenten Philosophen.

In seinem Roman rückt Felix Heidenreich nun das Verhältnis zwischen dem Diener und seinem Philosophen ins Zentrum und schärft den Gegensatz zwischen den beiden Männern: hier der rationale Kant, geistig ein Gigant, körperlich ein zierliches Männlein, da der aufbrausende, ungebildete Lampe, der körperlich seinem Dienstherrn zweifellos weit überlegen war. Die beiden verkörpern damit im Buch den Gegensatz zwischen Denken und Erfahrung.

Deutlich wird das, als sein Freund Joseph Greene Kant ein Buch von David Hume aus England schickt. David Hume ist der grosse Gegenspieler von Kant: Hume war Empirist. Er ging davon aus, dass alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammt und dass Sinneswahrnehmungen die Grundlage unseres Wissens sind. Hume sagt also, dass wir nur das erkennen können, was wir direkt erfahren haben. Kant dagegen sagt, dass wir nicht einfach passive Empfänger von Sinneseindrücken sind. Er sagt, dass wir nur mit unserem Verstand und unseren Vorstellungen und Begriffen aus Erfahrung Erkenntnis machen können. Und er sagt, dass es auch Erkenntnis ohne Erfahrung gibt, also Erkenntnis rein durch Denken. Kant nennt diese Art der Erkenntnis «a priori».

Als Kant das Buch von Hume erhält, bleibt er, entgegen seinen Gewohnheiten, die ganze Nacht wach und liest das Buch. Als Lampe ihn am anderen Morgen wecken will, findet er einen erschöpften Philosophen in seinem Zimmer, das Buch fest umklammert in den Händen. Als Lampe fragt, was denn so schlimm sei an einem Buch, antwortet ihm Kant, dass dieses Buch behaupte, der Mensch könne nicht erkennen, was er nicht vorher mit seinen eigenen Sinnen erfahren habe. Es wäre das Ende der Metaphysik, die Kant seit Jahren lehrt: Endliche Wesen könnten nichts Unendliches erkennen! Lampe versteht das nicht und fragt, ob das denn so schlimm sei. Da explodiert Kant:

Kant sprang auf, aus seinen Augen schien Feuer zu sprühen. Für eine Sekunde glaubte ich, er werde mir an die Gurgel springen.
«Was bist du nur für ein Einfaltspinsel! : Du heisst Lampe und bist alles andere als eine Leuchte! Dein Name verspricht Licht oder zumindest Beleuchtung, doch stockfinstere Nacht herrscht in deinem Köpflein. Sieh dich an! Ein Holzkopf bist du! Verstehst du denn nicht, was es bedeuten würde, hätte dieser David Hume Recht? Gott ist ein unendliches Wesen – könnten wir es nicht erkennen, wäre unsere Religion auf einer blossen Verstandestäuschung gebaut. Es wäre das Ende der sittlichen Welt, das Ende unserer Welt!» (S. 79f.)

Lampe tritt benommen aus der Kammer und wankt die Treppe herunter. Er ist überzeugt: Sein Dienstherr ist verrückt. Kant muss verrückt sein.

Von Stund an herrscht im Roman von Felix Heidenreich Krieg zwischen den beiden Männern. Aus Sicht von Lampe verkörpert Kant den lebensunfähigen Denker, der keinen Tag überstehen würde, wenn er, Lampe, ihn nicht betreuen würde. Aus Sicht von Kant verkörpert sein Diener den ungebildeten Erfahrungsmenschen. Doch Lampe will verstehen. Heimlich liest er die Bücher und Notizen seines Dienstherrn, lauscht den Gesprächen mit seinen Freunden und Kollegen und schüttelt den Kopf.

Im Buch sagt Lampe, der Erfahrungsmensch:

«Hier zeigte sich, was mich seit der ersten Stunde bei Kant verwirrt, verwundert, ja schliesslich nahezu ratlos machte: ein Nebeneinander von Scharfsinn und bodenloser Dummheit. Jahrelang glaubte ich, Kants absurde Ansichten wären einfach auf seinen Mangel an Erfahrung zurückzuführen. Aber jetzt, im Rückblick, wird mir allmählich klar, dass der Scharfsinn der Grund für seine Dummheiten war. Ja, alle Gedanken und Thesen, die ich an ihm gehasst habe, waren durch diese Denkungsart geprägt, diese seltsame dumme Schlauheit, diesen merkwürdigen Glauben, mit einem kleinen Ich gegen die Welt anvernünfteln zu können. (S. 66)

Aus Sicht von Lampe «vernünftelt» der Philosoph nur. Er treibt Gedankenspiele, die er nie am Ernst des Lebens prüfen muss. Dafür ist er, Lampe zuständig. Lampe sagt:

Ich war sein Trottel für das Empirische. Während ich mit beiden Beinen durch den Morast der Sorge stapfte, sass er auf meinem Rücken und betrachtete die Sterne. (S. 116)

Doch die Abhängigkeit ist natürlich gegenseitig: Wenn der Philosoph nicht nach den Sternen greifen würde, hätte auch Diener Lampe kein Auskommen mehr. Trotzdem versucht der Diener, den Blick des Philosophen mit Fragen und Bemerkungen auf die Erde zu zwingen. Der Kampf zwischen Diener und Philosoph wird zum unterhaltsamen Bild über die zentrale Frage der Zeit: Gibt es Erkenntnis nur durch Erfahrung oder ist Erkenntnis auch möglich, wenn man, wie Kant, nur in seiner Schreibstube sitzt und denkt?

Felix Heidenreich ist es gelungen, diese zentrale Frage der abendländischen Philosophie in einen wunderbar unterhaltsamen Roman zu packen, indem er die Frage nicht erörtert, sondern durch seine Protagonisten ausleben lässt. Indem Sie das Buch lesen, können Sie die Auseinandersetzung also erfahren.

Felix Heidenreich: Der Diener des Philosophen. Roman. Wallstein, 149 Seiten, 31.50 Franken; ISBN 978-3-8353-5530-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783835355309

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 24. Oktober 2023, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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