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Der Boulevard des Schreckens

Publiziert am 21. Oktober 2022 von Matthias Zehnder

Sagen Ihnen die Namen Tom Kummer und Claas Relotius etwas? Der Schweizer Journalist Tom Kummer hat Interviews mit Hollywood-Stars frei erfunden. Die «Süddeutsche», die seine Texte jahrelang abdruckte, hatte nichts gemerkt. Ähnlich ging es dem Magazin «Der Spiegel» mit Claas Relotius: Der Reporter hatte jahrelang grosse Teile seiner Reportagen und Interviews frei erfunden. Das war und ist Stoff für Analysen und Talkrunden, in denen wichtige Menschen ihre Stirnen mit tiefen Falten überziehen. Jetzt hat sich auch Moritz Hürtgen des Themas angenommen und darüber einen Roman geschrieben. Sie müssen dabei wissen, dass Hürtgen bis vor Kurzem Chefredakteur des Satiremagazins «Titanic» war. Sein Roman bietet deshalb keine tiefschürfende Analyse, sondern ein höchst vergnüglicher Husarenritt in die Welt des Boulevard-Journalismus. In meinem 126. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, die groteske Geschichte zu lesen.

 

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Berlin eine ganz neue Zeitungsgattung: die Kaufzeitung. Statt wie jede anständige Zeitung am Morgen und am Abend erschien die Kaufzeitung nur einmal am Tag: am Mittag. Vor allem aber: Die Zeitungen wurden ausschliesslich von Zeitungsjungen im Strassenverkauf abgesetzt. Die Jungen riefen lautstark einzelne Schlagzeilen aus. Die Frontseite der Zeitungen, welche die Jungen den Passanten entgegenstreckten, musste so gut sein, dass es den Passanten den Atem verschlug und sie sofort ihre Geldbörsen zückten. Weil diese Zeitungen in Berlin vor allem auf den grossen, stark bevölkerten Strassen verkauft wurden und diese Strassen in Berlin «Boulevards» hiessen, werden Zeitungen, die auf Schlagzeilen setzen, die einem den Atem verschlagen, bis heute «Boulevardzeitungen» genannt. 

Allerdings bedienen sich heute nicht mehr nur Zeitungen, die nur auf der Strasse verkauft werden, den im wörtlichen Sinn marktschreierischen Methoden der frühen Boulevardpresse: Das Internet ist für alle Zeitungen zum grossen Boulevard geworden, auf dem sie sich verkaufen und verklicken müssen. Vom «Spiegel» bis zur «NZZ», von der «Berliner Zeitung» bis zur «Süddeutschen» verhalten sich deshalb auch so genannt seriöse Zeitungen so, wie die «B.Z. am Mittag», wie die erste Boulevardzeitung Deutschlands hiess.

Das erfährt im Buch von Moritz Hürtgen Volontär Martin Kreutzer am eigenen Leib. Er hat sich zwar ein Praktikum bei einer überregionalen Berliner Tageszeitung geangelt, steckt da aber fest. Seit Monaten. Er ist und bleibt der Volontär im Kulturteil. Bis er es eines Tages wagt, sich an der grossen Redaktionskonferenz zu Wort zu melden. 

Der Chefredakteur ist mal wieder gross in Fahrt. Alle wissen, dass der Chef vor Konferenzen kokst. Und zwar nicht heimlich auf dem Klo, sondern direkt am Konferenztisch, teilweise noch während die Kollegen Platz nehmen. Der Chefredakteur ist also aufgeputscht und drischt verbal auf einen Künstler ein, den er als (ich zitiere) «absolute Null», einen «Gutmenschen», einen «uninspirierten Dauerstudenten» und eine «nervige Lyrikschwuchtel» bezeichnet. Ein Chefredakteur auf Koks halt. 

Anlass der verkoksten Tirade ist ein Festival namens «Beschwörungen», ein Performance-Festival, angekündigt als «Crossover aus Lyrik und elektronischer Musik». Veranstalter ist der beschimpfte Lukas Moretti. Der Chef verlangt deshalb von der Leiterin des Feuilletons, dass sie jemanden nach München schickt, der sich, wieder Zitat «die ganze Scheisse ab Freitag anguckt, und am Montag versenkt ihr diesen Trottel und sein übersubventioniertes Wohlfahrtsfestival in vier Spalten!»

Am besten wäre natürlich in Interview mit dem aufgeblasenen Künstler, aber der Kerl will mit der Zeitung nicht sprechen, weil ihm die Äusserungen des Chefredakteurs zu Immigration und Abschiebung missfallen. Das ist der Moment, als sich Volontär Martin Kreutzer zu Wort meldet. Er sagt er kenne den Künstler vom Studium in München her, sie hätten gemeinsam für eine Studentenzeitschrift gearbeitet und hätten einen guten Draht gehabt. Das ist nicht einmal gelogen. Gut, das mit dem Draht vielleicht. Aber gemeinsam studiert haben sie. Jedenfalls haben sie einmal die gleiche Vorlesung besucht und Kreutzer hatte darin ein paar Sitzreihen vor sich Moretti erkannt.

Zum Entsetzen der Feuilletonchefin steigt der Chef auf das Angebot des Volontärs ein. Er schickt Kreutzer nach München (aber zweiter Klasse und keine teuren Hotels). «Und wenn du uns Moretti bis Sonntagabend nicht komplett zerhackt lieferst, kannst du dir eine Lederhose kaufen und für immer in diesem Provinznest bleiben und Brezeln backen.» 

Martin Kreutzer reist also nach München – und blitzt natürlich aufs Fürchterlichste ab bei Künstler Moretti. Er kennt ihn nicht, verspottet dessen Zeitung und wirft ihn raus. Der Volontär muss unverrichteter Dinge wieder abzotteln.

«Eine Bahn Richtung Innenstadt fuhr ein, die Türen öffneten sich. Martin wollte gerade zusteigen, da klingelte sein Handy. Auf dem Display las er ‹Linda Hellwig›. Er blieb am Bahnsteig stehen und nahm, als der Zug ohne ihn abfuhr, das Gespräch an.
‹Kreutzer, haben Sie ausgeschlafen? Hab ich Sie geweckt? Verzeihen Sie, ich bin manchmal furchtbar ungeduldig. Es ist ja erst 16.00 Uhr. Soll ich später noch mal anrufen?›
Martin setzte zu einer Entschuldigung an, wurde von Hellwig aber jäh unterbrochen.
‹Ich will von ihnen nur eines wissen, Kreutzer. Haben Sie Moretti – oder haben Sie ihn nicht?›
Die Kontrolle zurück gewinnen, achte Martin. ‹Ich hab ihn, Frau Hellwig, ich habe ihn.› Martin klang, als hätte er einen international gesuchten Terroristen ausgeschaltet.
‹Was heisst das? Haben Sie mit ihm gesprochen? Dann schicken Sie mir das Transkript!›
‹Heute Abend. Wir sind in einer Bar verabredet›, log Martin. Endlich hatte er eine Idee. Sie war verwegen, aber gut.
‹Schön, dass sie ein Date haben, Kreutzer. Jetzt sagen Sie mir einfach, was Sache ist.›
‹Moretti gibt mir ein Interview, er macht eine Ausnahme. Er denkt, ich komme in guter Absicht, als ehemaliger Kommilitone. Wir trinken was, und dann hau ich ihn in die Pfanne!›
War Hellwig beeindruckt? Kurz herrschte Stille in der Leitung.
‹Aha. Na, dann machen Sie das mal! Und morgen früh melden Sie sich, nicht ich. Verstanden?›» (S. 38f.)

So nimmt das Unheil seinen Lauf. Natürlich trifft Kreutzer den Künstler nicht. Er denkt sich das Interview aus. Das ist schwieriger, als er meint, aber im Lauf der Nacht kommt er in Schwung und liefert am frühen Morgen ein Interview an die Redaktion. Wenig später klingelt sein Telefon. Die Hellwig ist am Apparat. Moretti, der Künstler, sei in der Nacht gestorben. Vor einen Zug gesprungen oder gestossen worden. Wie auch immer: tot. Dann schaltet sich aus der Chef ins Gespräch ein und kräht begeistert, das Interview sei das letzte Gespräch des Künstlers und er, Kreutzer, komme damit ganz gross heraus. Und deshalb müsse er jetzt in den Heimatort des Künstlers fahren und Hintergründe liefern. Schliesslich habe er ihn ja gekannt. Kreutzer muss also weiter liefern.

Das ist die Basis auf der Moritz Hürtgen eine Geschichte entwickelt, die immer grotesker wird. Eine Geschichte, bei der nicht klar ist, ab wann sie sich nur noch im fiebernden Gehirn von Praktikant Kreutzer abspielt. Die Geschichte wird zum Boulevard des Schreckens, weil der Praktikant ja nichts anderes liefern darf.

Der Roman ist natürlich keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Relotius und Kummer. Er ist viel mehr als das: Er führt sie ad absurdum und verführt genau damit die Leserin und den Leser. Und erbringt damit gleich den Tatbeweis, dass das schwächste Glied in der Medienkette nicht der koksende Chefredakteur und nicht die willfährige Feuilletonchefin ist, sondern – der Konsument. Der (damit sind wir gemeint) lässt sich nämlich nur allzu leicht von Schrecklichkeiten zur Lektüre verführen. Was sich im vorliegenden Fall durchaus lohnt.

Moritz Hürtgen: Der Boulevard des Schreckens. Verlag Antje Kunstmann, 304 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-95614-509-4

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783956145094

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 20. Oktober 2022, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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