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Der Apparat

Publiziert am 22. August 2023 von Matthias Zehnder

Ein Roman erzählt normalerweise eine längere Geschichte. Im Zentrum steht eine Hauptfigur, die eine persönliche Entwicklung durchmacht, ein grosses Rätsel lösen oder ein Abenteuer bestehen muss. «Der Apparat» von J.O. Morgan funktioniert anders. In den elf Kapiteln treten immer wieder andere Figuren auf. Sie alle kreisen um eine neue Technik: Der Roman spielt in einer Welt, in der das Internet nie erfunden wurde, dafür aber ein Apparat für die Teleportation. Wie das Internet durchdringt dieser Apparat mit der Zeit die ganze Welt, verändert Beziehungen, ja das Leben. Die Verfremdung vom Internet zur Teleportation reicht aus, dass wir diese veränderte Welt von aussen sehen und die neue Technik viel kritischer betrachten als unser aller Internet. Das Resultat ist ein faszinierendes Leseerlebnis. In meinem 168. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es sich lohnt, sich diesem Leseerlebnis auszusetzen.

Wenn Sie StarTrek kennen, dann wissen Sie, was Teleportation ist: Ein Scanner liest sämtliche Moleküle eines Gegenstands oder eines Körpers ein und transportiert diese dann an einen anderen Ort. In der Fernsehserie wurde die Technik aus der Not geboren: Die Macher konnten es sich nicht leisten, für jede Folge eine teure Animation eines Landeanflugs zu produzieren. Flugs wurde der Transporter kreiert, mit dem sich Captain Kirk, der unverwüstliche Spock und ihre Crewmitglieder von Schiffsingenieur Scott berührungslos auf die Oberfläche eines fremden Planeten oder die Brücke eines anderen Raumschiffs transportieren liessen. Merksatz: «Beam me up, Scotty».

Ungefähr so funktioniert die Teleportation auch im Roman «Der Apparat» von J.O. Morgan – einfach ohne Scotty. Im Laufe der Lektüre erleben wir die Erfindung der Technik, wie sie sich langsam verbreitet und weiterentwickelt, bis sie schliesslich ganz selbstverständlich auf dem ganzen Planeten eingesetzt wird. Die Anfänge sind bescheiden: Der Apparat ist gross wie ein amerikanischer Familienkühlschrank, darin befindet sich ein kleines Fach. Dieses Fach ist die eigentliche Sende- und Empfangsstation. Wenn nach langem Schütteln, Trommeln, Klopfen und Rasseln ein Plastiklöffel im Fach liegt, ist das ein Erfolg.

Die Apparate werden kleiner und leiser. Logistikunternehmen transportieren Ware nicht mehr mit Lastwagen auf der Strasse. Sie schicken mobile Sendestationen: Apparate auf Lastwagen. Die Güter werden in den Lastwagen geladen und dann auf Knopfdruck an die Empfangsstation geschickt. J.O. Morgan schildert, wie sich Mrs. Carter, eine alte Dame, dagegen wehrt, dass bei einem Umzug ihr Lieblingsgemälde teleportiert wird. Mrs. Carter diskutiert mit Emma, der Operateurin der Teleportationseinheit:

«‹Wie können Sie nur dulden, dass ein Kunstwerk, etwas, das mit Sorgfalt, mit Verständnis, in lauter winzig kleinen Schritten, Schicht auf Schicht von Menschenhand geschaffen wurde, etwas, das zugleich aus Farbe und noch etwas anderem, aus einem Mehr besteht, etwas, das den blossen Stoff des Materials ins Transzendente, Schöne, Ewige erhebt … Wie kann so was bis aufs winzigste Atom zerlegt und Hunderte von Kilometern weiter wieder zusammengesetzt werden? Wie könnte es dasselbe bleiben wie das Original? Eine Fälschung wird dadurch daraus, eine billige Kopie, eine erbärmliche Nachahmung.›
‹Keine Kopie, nein. So geht das nicht,› Stirnrunzelnd musterte Emma die klobige Bedieneinheit. «Die Replizierung ist perfekt. Sie sagen es ja selbst: bis aufs winzigste Atom. Das ist keine Kopie, sondern das echte Ding. Bloss eben … transportiert.›
‹Nein.› Mrs. Carter schüttelte betrübt den Kopf. ‹Nein. Jetzt ist es eine Replik. Mehr nicht. Entwertet. Hat seine wahre Perfektion verloren. Die Vollkommenheit, die genau darin bestand, dass es unvollkommen war.›» (Seite 53)

Wir können uns mit beiden Figuren identifizieren, mit Emma, die den Kopf schüttelt über die alte Frau, die sich an die Welt von gestern klammert, aber auch mit Mrs. Carter, die weiss, dass der Fortschritt nicht kostenlos zu haben ist, dass sie auch etwas verliert dabei. So geht es uns in fast allen Kapiteln: Wir verstehen die Probleme der Figuren. Kathy zum Beispiel macht sich sorgen um ihren Mann: Er ist der erste Mensch, der mit dem Apparat verschickt wird. Sie stellt fest, dass ihn das verändert hat, aber er glaubt ihr nicht. Ein Ingenieur versucht, den Apparat so zu modifizieren, dass er seine Frau von Krebs heilen kann: Der Apparat soll einfach nur das gesunde Gewebe transportieren. Ein Junge hackt die Maschine und wird dafür … nein, das verrate ich Ihnen nicht.

Der Kniff von J.O. Morgan ist es, die Technik der Welt mit dem Apparat gerade so stark zu verfremden, dass wir die technische Entwicklung im Buch von aussen anschauen können. Dass wir den Apparat durch das ganze Buch so sehen, wie die Menschen 1990 das Internet gesehen haben.

Die Frage hinter der Geschichte lautet: Wie verändert eine Technik die Welt? Wie verändern neue technische Möglichkeiten den Menschen? Im Buch können wir zusehen, wie so eine Veränderung vor sich geht. Erst werden nur Gegenstände teleportiert, dann auch Menschen. Bald braucht es keine Strassen oder Flughäfen mehr. Schliesslich werden nicht nur Städte, Quartiere und Dörfer angeschlossen, sondern auch Häuser, ja einzelne Zimmer. Es ist möglich, sich vom Erdgeschoss in den ersten Stock zu beamen. Natürlich hat das Vorteile für behinderte oder alte Menschen. Die Verfremdung der technischen Entwicklung im Buch ermöglicht es uns aber auch, die Nachteile und Veränderungen zu sehen, die die neue Technik der Welt aufdrückt.

Denn das eigentliche Problem ist, dass wir diesen schrittweisen Veränderungen, ja der Technik gegenüber blind sind. Als eine junge Journalistin in einer Bar Mr. Jacks begegnet, einem der führenden Ingenieure der Apparate-Firma, und ihm gegenüber die technischen Risiken der Apparate anspricht, bringt Mr. Jacks dieses Problem der Technikblindheit zur Sprache:

«‹Oh, nein, nein! Völlig verkehrt.› Mr Jacks tippt mit dem Finger auf die Theke. ‹Das ist nicht der Punkt. Das ist nicht das Problem, kein Stück. Der eigentliche Punkt ist, dass wir ein System akzeptieren, das niemand wirklich versteht. Ein System, das nicht mal Sinn ergibt. Und doch verlassen wir uns alle darauf. Glauben daran. Vertrauen ihm blind. Wir benutzen es, weil man uns sagt, dass es funktioniert. Wir nehmen das hin. Haben keinen Grund, es anzuzweifeln. Und jetzt sind wir daran gewöhnt. Wir werden es weiternutzen, egal, was irgendwer darüber sagt. Und zu was macht uns das? Die Frage ist nicht, was das System tut oder nicht, während wir es nutzen, sondern: Wie verändert uns schon seine blosse Existenz? Was für Menschen sind aus uns geworden? Es beherrscht uns. Bestimmt unser Leben. Und wir lassen das zu. Wir laden es förmlich dazu ein – ›» (S. 139)

Das ist der Punkt: Die Frage ist nicht, was das System tut oder nicht. Die Frage ist, wie uns schon seine blosse Existenz verändert. In der realen Welt erfolgt diese Veränderung subtil, schrittweise, wir bemerken sie kaum. Plötzlich braucht es keine Telefone und keine Briefkästen mehr, Rechnungen tauchen automatisch im Bankkonto auf und die Jungmannschaft meldet sich per Videobotschaft aus Japan, den USA oder wo auch immer sie gerade sind. In seinem Buch macht J.O. Morgan diese Veränderungen sichtbar, indem er die Technik verfremdet. Das macht sein Buch so faszinierend.

J.O. Morgan: Der Apparat. Rowohlt, 240 Seiten, 33.90 Franken; ISBN 978-3-498-00302-9

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783498003029

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 22. August 2022, Matthias Zehnder

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https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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