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Der Abstinent

Publiziert am 25. August 2021 von Matthias Zehnder

Ich gebe Ihnen jede Woche einen Lesetipp: ein Buch das ebenso intelligent wie unterhaltend ist.

Diese Woche: «Der Abstinent» von Ian McGuire.

Hier gibt es die ausführliche Fassung dieses Buchtipps auf Youtube:

1867 greifen in der englischen Industriestadt Manchester drei irische Nationalisten einen pferdegezogenen Polizeiwagen an. Im Wagen sitzen ein Polizist und zwei Gefangene, die ins Gefängnis überführt werden sollen. Bei den beiden Gefangenen handelt es sich um Mitglieder der  Irish Republican Brotherhood, die sich auch die Fenians nennt. Der Gefängniswagen ist verschlossen, der Polizist im Inneren hat den Schlüssel. Die Befreier versuchen, die Tür des Wagens mit Schüssen aufs Schloss zu öffnen. Weil der Polizist im Wagen gleichzeitig durch das Schlüsselloch des Wagens schaut, wird er getötet. Die britische Polizei verhaftet darauf drei Fenians und klagt sie wegen Polizistenmord an. Die drei werden zum Tod durch den Strang verurteilt. 

Das ist die düstere Ausgangslage von Ian McGuires neuem Roman «Der Abstinent». Bei dem abstinenten Mann, der dem Roman den Titel gab, handelt es sich um Constable James O’Connor, einen irischen Polizisten, der von Dublin nach Manchester versetzt wurde. In Dublin hiess es, er sei der klügste Mann der Stadt. Doch dann starb sein Sohn und kurz darauf auch seine Frau und er versuchte, seinen Schmerz mit Whiskey zu betäuben. Statt ihn gleich zu entlassen, versetzten ihn seine Vorgesetzten nach Manchester und O’Connor schwor, keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. In Manchester wird er zum Verbindungsmann zwischen der Polizei und den irischen Informanten: Männern, die die Polizei über die Absichten der Fenians auf dem Laufenden halten. O’Connor verzichtet nicht nur auf Alkohol, er möchte auch auf Gewalt verzichten. Beides wird ihm sehr schwer gemacht. Denn der Ire in England gerät zwischen die Fronten einer arroganten, britischen Polizei und einer aufrührerischen, irischen Befreiungsfront.

Irland, diese stolze, grüne Insel, ist erst seit 1949 ein eigenständiger Staat. Bis dahin war Irland ein Teil des Vereinigten Königreichs – die anglikanischen Briten herrschten über die katholischen Iren. Schon im 19. Jahrhundert begannen die Iren, sich gegen die britischen Besatzer zu wehren. Die Politik der britischen Grossgrundbesitzer in Irland und die Kartoffelfäule hatten Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Hungersnot geführt: 1,5 Millionen Iren verhungerten, viele wanderten in die USA aus.

In Irland und in den USA gründeten aufmüpfige Iren Geheimorganisationen, die den Widerstand gegen die britischen Besatzer organisierten. In Irland kämpfte die Irish Republican Brotherhood, von den USA wurde sie von der Fenian Brotherhood mit Geld und Waffen unterstützt. Das führte nach dem Ersten Weltkrieg, 1919 bis 1921, zu einem blutigen Bürgerkrieg und 1949 zur Unabhängigkeit von Irland. Wenigstens des südlichen, katholischen Teils der Insel. Der protestantische Norden gehört bekanntlich bis heute zu Grossbritannien und führt seit dem Brexit wieder zu Auseinandersetzungen an der Grenze – und beschert Politikern in England und in der EU Kopfzerbrechen.

Aber so weit sind wir noch nicht. Im Roman von Ian McGuire befinden wir uns im Jahr 1867. Die Feinan ist eine verschworene Bruderschaft, die auch in England gegen die Briten kämpft. Auch in Manchester, der Industriestadt im Nordosten von England. Das Buch setzt mit der Hinrichtung der drei Fenians ein, die an der Ermordung von Polizeisergeant Brett beteiligt waren. Constable James O’Connor wird zu seinen Vorgesetzten gerufen. Sie wollen wissen, was die Fenians planen.

«Die Hinrichtung wird die Leute gegen uns aufbringen. Schon jetzt sind viele überzeugt, dass die Urteile ungerecht sind und das mit Sergeant Brett schlimmstenfalls Totschlag war, aber ganz sicher kein Mord. Wenn die drei Männer hängen, werden andere nachrücken. Am Ende könnte die Fenian Brotherhood in Manchester sogar gestärkt aus der Sache hervorgehen.»
Palin runzelt die Stirn, richtet sich im Stuhl auf.
«Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen», sagt er. ΜDas klingt ja, als wollten Sie sagen, eine so harte Strafe könnte andere zu ähnlichen Verbrechen ermuntern, Wie soll das gehen? Wo läge da der Sinn?»
O’Connor blickt Hilfe suchend zu Maybury, doch der hebt nur die Brauen und lächelt ausdruckslos zurück.
«Es ist immer gefährlich, Märtyrer zu schaffen, Sir.»
«Märtyrer?», ruft Palin aus. «Das sind doch keine Märtyrer! Gewöhnliche Verbrecher sind das. Kaltblütige Polizistenmörder.»
«Ich persönlich sehe das natürlich auch so, Sir, aber die herrschende Meinung unter den Iren lautet anders.»
«Dann ist die herrschende Meinung eben Unsinn. Sind Ihre Landsleute wirklich so dumm? Lernen die denn nie?» (S. 11)

Nein, sie sind nicht wirklich sympathisch, diese britischen Polizeioffiziere. Und das sind noch die netten. O’Connor und seine Informanten geraten zwischen zwei sich rasch verhärtende Fronten. Auf der einen Seite die arroganten, britischen Polizisten, auf der anderen die verschworene, irische Bruderschaft. Die holt sich nach der Hinrichtung der drei Fenians Hilfe aus den USA: Stephen Doyle, ein in die USA ausgewanderter Ire, soll die Fenians in Manchester unterstützen. Doyle hat im amerikanischen Bürgerkrieg gekämpft. Er hat die Schlachten von Fredericksburg, von Chancellorsville, von Gettysburg und von Spotsylvania überlebt. Der Krieg hat ihn gezeichnet, nicht nur äusserlich hat er tiefe Narben davongetragen. Ein Menschenleben zählt ihm nichts mehr.

Als er in England ankommt, wird er gewarnt, die Polizei suche nach ihm. Schnell ist ihm klar, dass die Polizei in Manchester Informanten unter den Fenians haben muss. Er lässt O’Connor verprügeln und schneidet die Seiten aus dessen Notizbuch, auf denen die Namen der Informanten stehen. Noch bevor O’Connor überhaupt merkt, dass Seiten in seinem Notizbuch fehlen, liegen die Informanten mit weggeschossenem Gesicht auf der Mainstreet. 

Jetzt ist die Polizei von Manchester blind und taub. Und nimmt das O’Connor übel. Der fühlt sich schuldig an den Toten, vor allem gegenüber der Schwester eines seiner Informanten. Für einen kleinen Moment besteht die Chance, dass so etwas wie Liebe aufflackert in dieser Geschichte. Aber die unbarmherzige Auseinandersetzung zwischen den Fenians und der Polizei, die immer mehr auch zu einem persönlichen Kampf wird zwischen dem amerikanischen Gewalttäter Doyle und dem irischstämmigen Polizisten O’Connor, der nicht nur dem Alkohol zu entsagen versucht, .

Ian McGuire hat mit «Der Abstinent» eine Geschichte geschrieben, die zwischen historischem Roman und hard-boiled Krimi pendelt. Seine Sprache ist einfach und schnörkellos wie bei einem Raymond Chandler. Gleichzeitig lässt er die sozial düstere Zeit Ende des 19. Jahrhunderts in Englan und den USA wiederauferstehen, nimmt uns mit in düstere Kneipen, wo uns zahnlose Münder über billigen Rum angrinsen wie bei Charles Dickens. Eine faszinierende Mischung – die auch Verständnis dafür schafft, dass sich der Nordirland-Konflikt nicht bei einer Tasse Tee in Downing Street No. 10 lösen lässt. Jan Schönherr hat es geschafft, das Buch in ein ebenso schnörkelloses Deutsch zu übersetzen, wie es das Englische Original war. Das Resultat ist eine Geschichte, die unter die Haut geht. Gerade jetzt.

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783423282727

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 25. August 2021, Matthias Zehnder

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