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Das zweite Geheimnis

Publiziert am 16. August 2022 von Matthias Zehnder

Der deutsche Autor Titus Müller schreibt an einer Trilogie über die DDR. Hauptfigur der Romane ist Ria Nachtmann, eine junge Ostberlinerin. Im ersten Band lässt sie sich vom «Klassenfeind» im Westen, sprich: vom Bundesnachrichtendienst BND anheuern und wird zur Spionin. Höhepunkt der ersten Folge ist der Bau der Berliner Mauer. Ria schafft es im letzten Moment, in den Westen zu fliehen, kehrt aber nach Ostberlin zurück, weil sie ihre Familie nicht im Stich lassen will. Im zweiten Band erzählt Titus Müller, wie es Ria im Osten ergeht. Die Staatssicherheit hat die Bürger im Griff und kontrolliert sogar die Schulen. Höhepunkt dieses Bandes sind die Weltjugendspiele in Ostberlin und die Enttarnung von Günter Guillaume, dem DDR-Spion im Vorzimmer von Bundeskanzler Willy Brandt. Mitten im Geschehen:  Ria Nachtmann. In meinem 117. Buchtipp sage ich Ihnen, ob sich die Lektüre des Buches lohnt.

 

1973. Die Rolling Stones landen mit «Angie» einen weltweiten Hit, Elton John singt den «Crocodile Rock» und Pink Floyd veröffentlichen «The Dark Side of the Moon». In Deutschland ist Willy Brandt Bundeskanzler. Genauer: In Westdeutschland. In der DDR regiert mit der kühlen Hand der sozialistischen Bürokratie Genosse Erich Honecker. 

Berlin ist jetzt seit 12 Jahren durch eine Mauer in zwei Teile geteilt. An der innerstädtischen Grenze wird ohne Pardon scharf geschossen. Der «antifaschistische Schutzwall» richtet sich zwar verbal gegen den Westen, in Tat und Wahrheit aber soll er verhindern, dass noch mehr DDR-Bürger in die BRD auswandern. Erich Honecker hält seine Landsleute faktisch in der DDR gefangen. 

Der erste Band der DDR-Trilogie von Titus Müller spielt 1961, im Jahr des Mauerbaus. Mit dem zweiten Band macht er einen Zeitsprung von zwölf Jahren und erzählt, wie es seinen Protagonisten 1973 geht. Im Zentrum steht wieder Ria Nachtmann. Sie arbeitet als Sekretärin für Alexander Schalck – für viele der mächtigste Mann in der DDR. Schalck leitet den geheimen Bereich für Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Aussenhandel. Er versorgt die DDR mit Devisen – und die Nomenklatura mit Luxusgütern.

Vor zwölf Jahren hat Ria dem BND Informationen aus dem Ministerium weitergegeben, weil sie ihre Schwester suchte. Das Ministerium für Staatssicherheit, also die Stasi, hatte ihre Familie zerstört, die Eltern eingesperrt und die beiden Schwestern je in einer linientreuen Familie in Pflege gegeben. Über Umwege hatte sie dank ihrer Spionagearbeit ihre Schwester kennengelernt: Jolanthe, eher unglücklich mit Henning verheiratet, einem Volkspolizisten.

Im zweiten Band rückt Titus Müller ebendiesen Henning Nowak in den Fokus. Er ist mittlerweile zu den Grenzsoldaten versetzt worden und leistet an der Innerdeutschen Grenze Dienst. Aus dem einst strammen DDR-Polizisten ist ein Mann geworden, der mit seinem Staat hadert. Denn die Staatsgewalt will ihm seine Religion verbieten. Insbesondere das Beten. Henning ist gläubiger Christ und hadert mit seiner Aufgabe als Grenzsoldat. Er setzt deshalb alles auf eine Karte und versucht, die Grenze zu durchbrechen. 

Sein Fluchtversuch hat schwerwiegende Folgen. Als Schwägerin von Henning wird Ria Nachtmann sofort verhaftet: Sie befindet sich gerade in Bulgarien im Badeurlaub – die Stasi fürchtet, sie könnte per Fähre in die Türkei flüchten und so die Gemeinschaft der sozialistischen Länder verlassen. Ria kommt ins Untersuchungsgefängnis und wird von einer Offizierin der Staatssicherheit verhört. Die Stasi-Frau ist überrascht, wie sicher sich Ria gibt. Sie merkt, dass ihr da eine Frau gegenüber sitzt, die nicht sofort klein beigibt. Sie verbeisst sich in den Fall, sie ist überzeugt, dass bei Ria etwas faul ist. Sie kann nicht ahnen, wie recht sie damit hat.

Als sie angewiesen wird, Ria freizulassen – der lange Arm von Alexander Schalck reicht offenbar bis ins Ministerium für Staatssicherheit –, bleibt sie an ihr dran. Sie beschattet Ria, schnüffelt ihr hinterher, horcht Tochter Anni aus und versucht sogar, Anni dazu zu bringen, Rias Wohnung zu durchsuchen.

Die Aktivitäten der Stasi bleiben auch im Westen nicht unbemerkt. Stefan Hähner, der ehemalige Führungsoffizier von Ria beim BND, macht sich Sorgen. Er weiss, dass die Stasi bei Ria fündig werden kann, wenn sie die junge Frau ernsthaft durchleuchten. Er versucht, mit Ria Kontakt aufzunehmen. Doch Hähner, inzwischen beim Verfassungsschutz, hat alle Hände voll zu tun: Er ist an der Enttarnung von Günter Guillaume beteiligt, dem DDR-Spion im Vorzimmer von Bundeskanzler Willy Brandt.

Titus Müller mischt also auch im zweiten Band reale Ereignisse in seine fiktive Geschichte, ebendiese Enttarnung des DDR-Spions in Bonn, die Weltjugendspiele in Ostberlin oder die Aktivitäten der Abteilung Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Aussenhandel. In der Realität hiess der Funktionär, der die Abteilung leitete, Alexander Schalck-Golodkowski – es bleibt ein Rätsel, warum er im Roman nicht auch so heisst. 

Davon abgesehen ist die Mischung von Fakten und Fiktionen brilliant. Titus Müller lässt die Leserin, den Leser eintauchen in die beklemmend enge DDR, wo Normalbürger, überwacht von einer ewig misstrauischen Stasi, für Kartoffeln anstehen mussten, während für Genosse Erich Honecker in Berlin alle Ampeln auf Grün geschaltet wurden, damit seine Wagenkolonne nonstop durch die Stadt brausen konnte. Müller versteht es, diese Welt wiederauferstehen zu lassen, ohne sie bloss zu denunzieren. Er macht die Motivation von Ria oder von Republikflüchtling Henning genauso verständlich wie die von Stasi-Offizierin Marga und Funktionär Schalck. Selbst wenn Müller Erich Honecker über die Schultern schaut, scheint er Verständnis dafür zu haben, dass sich der erste Genosse auch mal ein Bier gönnt. Kurz: Prädikat äusserst lesenswert.

Titus Müller: Das zweite Geheimnis. Heyne, 432 Seiten, 23.90 Franken; ISBN 978-3-453-44126-2

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783453441262

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Basel, 17. August 2022, Matthias Zehnder

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