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Sommerzeit – Reisezeit – Lesezeit. In meiner literarischen Sommerserie stelle ich Ihnen jede Woche einen spannenden Krimi vor, der Sie an einen besonderen Ort entführt. Dabei erleben Sie Regionen, die wir sonst nur als Touristen kennen, aus der Perspektive der Einheimischen. Sechs Wochen, sechs Bücher, sechs Reiseziele – vom Mittelmeer bis an den Atlantik, vom Tessin bis nach Berlin. Heute geht es nach Mallorca. Aber nicht in den Süden der Insel, an die berüchtigte Playa de Palma, besser bekannt unter dem Spitznamen Ballermann, wo sich Malle-Touristen rund um die Uhr mit Sangria aus Plastikkübeln die Endlosparty schön saufen, sondern in den Norden, ins malerische Dorf Sant Martí. Hier lebt Isabel Flores Montserrat. Sie hat als eine der jüngsten Kommissarinnen bei der Policía Nacional in Madrid und Barcelona und zuletzt in Palma gearbeitet, nach einem besonders kräftezehrenden Fall aber den Dienst quittiert. Sie hat die Ferienhausvermietung ihrer Mutter übernommen und zu einem florierenden Unternehmen aufgebaut. Sie hat aber nach wie vor viele Freunde bei der Polizei. Als am Strand im Hafen von Pollença ein kleines Mädchen entführt wird, bittet Polizeichef Tolo Cabot Isabel um Hilfe. Als Ermittlerin war sie berühmt für ihren scharfen Verstand und ihre Intuition. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Uhr. In meinem 265. Buchtipp, der vierten Folge meiner Sommerserie, sage ich Ihnen, warum sich die literarische Reise nach Mallorca lohnt.
Mallorca hat einen zweifelhaften Ruf. Die Partymeile «Ballermann» am Strand der Hauptstadt Palma steht für Alkohol, Sonnenbrand, Lärm und Party. Die Insel leidet unter Overtourism. Viele Billigtouristen kommen nur fürs Saufen und machen Ärger. Die Kriminalität steigt. Mittlerweile protestieren die Einheimischen gegen den überbordenden Tourismus. Dieser Tage machten deutschenfeindliche Schmierereien international Schlagzeilen. Der Grund: Viele Einheimische finden keinen bezahlbaren Wohnraum mehr. Mallorca ertrinkt in den Touristenmassen.
Dabei geht ganz vergessen, dass die Insel abseits der Hauptstadt und der touristischen Hotspots über wunderbare Landschaften verfügt. Die Serra de Tramuntana im Nordwesten ist nicht nur ein beliebtes Wandergebiet, sondern sogar Unesco-Welterbe.

Mallorca gehört zwar seit 1716 zu Spanien: Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg wurde die Insel Teil der spanischen Provinz Balearen. Seit 1983 bilden die Balearen aber eine autonome Gemeinschaft innerhalb Spaniens und verwalten sich wenigstens zum Teil selber. Die Mallorquiner sprechen hauptsächlich Mallorquinisch, einen katalanischen Dialekt.
Isabel Flores liebste mallorquinische Redewendung ist «Poc a poc» – nach und nach. Die Insulaner lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Isabel – ihre Freunde nennen sie Bel – lebt abseits der Touristenmassen im Norden der Insel in Sant Martí, einem kleinen Dorf mit Blick auf die Serra de Tramuntana. Gesellschaft leistet ihr Furó, ein Frettchen. Das ist eine domestizierte Art des europäischen Iltis. Der Iltis, ein Tier aus der Familie der Marder, wurde schon vor mehreren tausend Jahren gezähmt und ursprünglich zur Jagd auf Kaninchen eingesetzt.
Ihre Ferienhausvermietung hat Bel «Hogar Dulce Hogar» getauft – Home Sweet Home. Im Büro geht ihr Pep zur Hand, der jüngere Bruder ihrer besten Freundin. Der ist erst 24, hat noch einige Flausen im Kopf und kann sich nicht recht damit abfinden, dass sein Chef eine Frau ist, davon abgesehen ist er aber ganz in Ordnung.
Auf der Insel ist Bel mit einem alten, kanariengelben Fiat 500 unterwegs, den sie Pequeñito getauft hat – also etwa: Winzling. Bel spricht mit ihrem Auto wie mit einem Haustier. Sie fordert Pequeñito dazu auf, die Scheinwerfer nach einem Parkplatz offen zu halten, verabschiedet sich von ihrem Auto nach dem Parken mit einem fröhlichen «Bis dann, Pequeñito!» und wenn sie es stehen lassen muss, blickt sie sehnsüchtig zu ihrem Pequeñito, der «gelassen unter einem Johannisbrotbaum auf sie wartet».
Bel ist also eine Figur zum Gernhaben. Aber auch wenn sie im malerischen mallorquinischen Dorf wohnt und ihren Cortado lieber in der etwas abgerissenen Dorfbar trinkt als in Barcelona oder Madrid, sollten wir sie nicht unterschätzen. Ein Cortado ist auf Mallorca ein Espresso, der mit etwa gleicher Menge heisser Milch gemischt wird – ein kleiner, kräftiger Kaffee mit einem weichen, milden Geschmack. Es ist eine der vielen mallorquinischen Spezialitäten, die wir beim Lesen kennenlernen. Aber zurück zu Bel.
Wenn Isabel einen Kriminalfall in den Medien verfolgte, verspürte sie ab und zu den Drang, noch einmal ein Ermittlungsteam zu leiten, aber das verging auch wieder. Ihr letzter Fall war ihr ein wenig zu nahe gegangen, hatte sie zu viel Kraft gekostet und dazu noch fast ihre Familie zerstört. Sie konnte sich nicht vorstellen, noch einmal dahin zurückzukehren, wo man sich an kleinliche Regeln halten musste und in Bürokratie erstickte. Ihr kometenhafter Aufstieg zur Kriminalkommissarin mit nicht einmal dreißig Jahren war absolut verdient gewesen – sie hatte schließlich genügend Fälle gelöst –, aber ihre Methoden galten bei ihren Vorgesetzten als unorthodox und exzentrisch, und ihre Kollegen hatten sie immer argwöhnisch und sogar ein bisschen ängstlich beäugt. Manche nannten sie aufgrund ihrer verblüffenden Fähigkeit, selbst die undurchschaubarsten Fälle zu lösen, la Bruja, die Hexe, andere weniger erfolgreiche Kollegen hatten ihre Leistungen als reines Glück abgetan. Isabel ignorierte diese Missgunst und verließ sich weiterhin auf ihren scharfen Verstand und ihr Bauchgefühl, das sie nur selten täuschte. (Seite 29)
Doch eines Abends ruft Tolo Cabot sie an, ihr ehemaliger Chef bei der Polizei in Palma. Er klingt erschöpft. Am Strand im Hafen von Pollença ist am Nachmittag ein Mädchen verschwunden. Ein achtjähriges britisches Mädchen, Miranda Walters. Sie war mit ihrer Mutter am Strand von Pollença beim Mittagessen. Während ihre Mutter gerade die Rechnung bezahlte, ist Miranda mit ihrem Eimer zum Meer gelaufen, um ihn aufzufüllen. Sie kam nicht mehr zurück. Eine Sache von Minuten. Eigentlich ist Tolo Cabot nur für Mord zuständig. Sein Chef rechnet aber schon damit, dass die Sache in einer Mordermittlung endet. Die Uhr läuft, Guardia Civil und Nationalpolizei müssen zusammenarbeiten, der Tourismusminister dreht im roten und die internationalen Medien, sagt Tolo, «huschen bereits zu uns rüber wie die Kakerlaken». Und, das ist der Grund für Tolos Anruf bei Isabel, die hohen Tiere in Madrid haben ausdrücklich die Beteiligung von Isabel gefordert, weil sie so viel Erfahrung auf dem Gebiet hat.
Das wäre Isabel noch egal. Aber weil es um ein kleines Mädchen geht, dessen Lieblingsbuch erst noch die Kindergeschichten von Roald Dahl sind, willigt sie ein. Sie kriegt ihre Polizeimarke zurück und wird externe Beraterin im Team von Tolo.
Nach dem Anruf saß Isabel gedankenversunken da, bis Furó aufwachte und ihr auf den Schoß sprang. Vielleicht spürte er ihr Unbehagen? Sie zerzauste das dicke Fell und nahm seine schnurrbärtige Schnauze in die Hand. Sein Gesicht hatte etwas Tragikomisches. Die Schnauze war glatt und beige, der dunkle Fellstreifen um die Augen ließ das Frettchen wie einen Banditen aussehen. «Was soll ich tun, Furó? Kann ich das denn überhaupt noch? Vielleicht bin ich ganz aus der Übung.» Das Frettchen grunzte und sprang von ihrem Schoß. Sie sah ihm nach. «Na vielen Dank aber auch für diesen Vertrauensbeweis.» (Seite 47)
Tolo Cabot und Isabel Flores verbindet übrigens mehr als nur der Beruf. Das lassen sie sich aber nicht anmerken. Oder fast nicht. Das Buch ist fast durchgehend aus der Perspektive von Isabel geschrieben. Einer der wenigen Perspektivwechsel ist ein Schwenk in Richtung Tolo Cabot: Er sieht sie auf sein Auto zukommen. Das ermöglicht es Autorin Anna Nicholas, Isabel so zu beschreiben, wie sie von anderen wahrgenommen wird. Der Beschreibung ist aber auch zu entheben, dass Isabel Tolo Cabot sympathisch ist.
Tolo Cabot wartete in einem zivilen Auto in der Nähe der Polizeistation auf Isabel. Er trug ein hellblaues Hemd unter einer cremefarbenen Leinenjacke und nippte trotz der Hitze an einem Kaffee. Isabel zwinkerte ihm mit den Scheinwerfern zu und fand eine Parklücke auf der anderen Seite der Calle de Vicente Buades. Im Rückspiegel sah er, wie sie schwungvoll auf ihn zuschritt. Sie war unbestreitbar attraktiv: ausdrucksstarke Gesichtszüge, gute Wangenknochen, eine hochmütige Nase. Ihm gefiel auch, wie sie sich kleidete, immer schlicht und stilvoll. Kein Schmuck. Nicht einmal eine Uhr. Falls sie Make-up trug, war es für ihn unsichtbar. Sie war eine Hedonistin, genoss gutes Essen und guten Wein. Sie las viel, mehr als er. Trotz der unglücklichen Umstände, die sie gerade zusammenführten, schlug sein Herz höher bei dem Gedanken, wieder mit ihr zu arbeiten. (Seite 56)
Geht da noch was?

Mit Isabel Flores ist Anna Nicholas eine spannende und liebenswerte Figur gelungen. Anna Nicholas stammt aus Rochester in Kent, sie hat Englische Literatur und Altphilologie studiert, bevor sie unter anderem für das «Guinnessbuch der Rekorde» die Public Relations verantwortete. Nach vielen Jahren auf Reisen lebt sie heute als freie Autorin auf Mallorca. Das heisst auch: Sie weiss, von was sie schreibt. Das macht das Buch spannend, auch und gerade weil es um Mallorca geht. Als Leserin, als Leser lernen Sie dabei Mallorca nämlich aus der Perspektive der Einheimischen abseits der touristischen Hotspots kennen. Das ist spannend, informativ und macht, auch weil dabei viel von Essen und Trinken die Rede ist, Appetit auf mehr.
Anna Nicholas: Das Teufelshorn. Der erste Fall für Isabel Flores. Ein Mallorca-Krimi. Diogenes, 416 Seiten, 24 Franken; ISBN 978-3-257-30113-7
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783257301137
Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:
https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/
Basel, 24.07.2025, Matthias Zehnder
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