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Das Philosophenschiff

Publiziert am 22. Februar 2024 von Matthias Zehnder

Wahr oder falsch? Diese Frage müssen wir uns immer häufiger stellen. KI-Tools haben dazu geführt, dass das Internet mit Fake News geradezu überschwemmt wird. Wahr oder falsch? Das ist eine Schlüsselfrage im Umgang mit Nachrichten. Wenn es um Kunst und Kultur geht, bringt uns diese Frage aber kaum weiter. Natürlich haben Heidi und Wilhelm Tell, Scarlett O’Hara und Holden Caulfield nicht gelebt. Das heisst aber nicht, dass Johanna Spyri und Friedrich Schiller, Margaret Mitchell und J.D. Salinger Fake News verbreitet haben. Ihre Geschichten sind vielleicht erfunden, wahr können sie trotzdem sein. Ein aktuelles Beispiel für erfundene Wahrheit ist Michael Köhlmeiers neuer Roman «Das Philosophenschiff». Köhlmeier erzählt darin die Lebensgeschichte einer fiktiven Architektin namens Anouk Perelman-Jacob, die 1923 als Kind mit ihrer Familie auf einem der sogenannten «Philosophenschiffe» von der Sowjetunion nach Deutschland deportiert wurde. Verpackt ist die Geschichte in eine klassische Rahmenhandlung, die berichtet, wie die hundertjährige Anouk dem Schriftsteller ihr Leben erzählt. Natürlich ist das alles erfunden. In meinem 192. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum es dennoch nicht gelogen ist und warum eine Geschichte wahr sein kann, auch wenn sie so nicht stimmt.

Auf Italienisch gibt es diesen wunderbaren Ausspruch: «Se non è vero, è molto ben trovato.» – «Wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden.» Der Satz wird Giordano Bruno zugeschrieben, einem italienischen Priester, Mönch und Astronomen, der im Jahr 1600 durch die Inquisition der Ketzerei für schuldig befunden und in Rom zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. Giordano Bruno hatte das geozentrische Weltbild verworfen und erklärt, dass die Sterne weit entfernte Sonnen seien, die wie unsere Sonne von Planeten umgeben seien. Giordano Bruno hat mit dem Leben dafür bezahlt, dass er eine Wahrheit äusserte, die von der katholischen Kirche damals abgelehnt wurde. Ob der Satz «Se non è vero, è molto ben trovato» wirklich von diesem Giordano Bruno stammt, der sich für die Wahrheit einsetzte wie kaum ein anderer, ist allerdings nicht sicher. Vielleicht ist auch das nicht wahr, aber dennoch gut erfunden.

Dafür hat sich ein anderer grosser Geist intensiv mit der Frage beschäftigt, ob Erfundenes wahr sein kann: Immanuel Kant hat argumentiert, dass es zwei Arten von Wissen gibt. Empirisches Wissen, das aus der Erfahrung stammt, und rationales Wissen, das aus der Vernunft stammt. Kant sagt also, es gibt nicht nur Wahrheiten, die sich beobachten lassen. Es gibt auch Wahrheiten, die man nur erdenken kann.  Dabei kann Dichtung eine Rolle spielen, indem sie zum Nachdenken über wichtige Themen anregt und uns helfen kann, unsere eigene Moral zu entwickeln.

Genau in diesem Sinn ist «Das Philosophenschiff» von Michael Köhlmeier zwar nicht wahr, aber doch gut erfunden. Im Zentrum steht die Lebensgeschichte der (erfundenen) Anouk Perlman-Jacob, einer Jüdin aus St. Petersburg. Ihre Lebensgeschichte ist eingebettet in eine Rahmenerzählung: Zu ihrem hundertsten Geburtstag lädt Anouk einen Schriftsteller ein und bittet ihn, ihr Leben als Roman zu erzählen. Die Rahmengeschichte erzählt von den Begegnungen des Schriftstellers mit der hundertjährigen Frau. Die Rahmenerzählung schlägt die Brücke zwischen der Lebensgeschichte im Roman und unserer Realität. Der Schriftsteller im Buch beschreibt sogar, welche Quellen er konsultierte, um das zu überprüfen, was ihm die alte Frau berichtet. Er schreibt zum Beispiel, er habe einen Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» gefunden, in dem von zwei Schiffen berichtet werde.

Im Herbst 1922 seien sie von Sankt Petersburg abgefahren, über den Finnischen Meerbusen und die Ostsee in Richtung Deutsches Reich, mit je hundert bis zweihundert Personen an Bord — Ärzten, Professoren aus allen Fakultäten, Studenten, Ingenieuren, Rechtsanwälten, Journalisten, Philosophen, unter ihnen Simon Frank, Ivan Iljin, Nikolai Losski, Nikolai Berdjajew und Fedor Stepun, der Schriftsteller Michail Ossorgin, Tolstois Sekretär Walentin Bulgakow, der Historiker Alexander Kiesewetter, der Soziologe Pitirim Sorokin. (Seite 43f.)

Dieser Artikel existiert tatsächlich. Er ist am 6. Juni 2000 in der NZZ erschienen. Titel: «Auf dem Philosophenschiff. Lenins grosse ‹Operation› gegen die russische Intelligenz». Eine international beachtenswerte russische Philosophie existiere heute so gut wie nicht, schreibt die NZZ. «Das hängt einerseits zusammen mit der jahrzehntelangen ideologischen Selbstisolation der Sowjetunion, anderseits mit der planmässigen Vertreibung der philosophischen Intelligenz. 1922 etwa liess Lenin fast alle führenden Köpfe des Landes auf einem Schiff ins Ausland verfrachten.»

Diese Geschichte also greift Michael Köhlmeier in seinem Buch auf. Sie ist, wenn man es ganz platt sagen will, wahr. Köhlmeier erzählt die Geschichte der Philosophenschiffe aber anhand einer erfundenen Biografie. Eine Architektin namens Anouk Perleman-Jacob hat es nie gegeben. Die Art und Weise, wie er deren Lebensgeschichte erzählt, ist jedoch so eingängig und so packend, dass wir als Leser sehr gut nachempfinden können, wie es sich für die Vertriebenen auf diesen Schiffen angefühlt haben muss – oder generell: was es heisst, vertrieben zu werden. Das macht die Geschichte wahr, ohne dass sie faktisch richtig ist.

Laut der NZZ gelten «die ‹Philosophenschiffe›, mit denen die geistige Elite Russlands in ein Exil ohne Wiederkehr abgeschoben wurde, als Symbol bolschewistischer Traditions- und Kulturverachtung». Selbst Lew Trotzki, der die «Operation» in seiner damaligen Eigenschaft als Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats energisch gefördert und sie gegenüber dem Ausland wortreich gerechtfertigt habe, «musste später – nachdem er seinerseits ausgebürgert worden war – erkennen, dass dem russischen Geistesleben dadurch ein Substanzverlust zugefügt wurde, der lange Zeit nachwirkte und von der offiziellen sowjetischen Dienstphilosophie niemals ausgeglichen werden konnte», berichtet die NZZ.

Bleibt die Frage, warum all die Intellektuellen verschifft und verbannt wurden. Michael Köhlmeier lässt in seinem Buch Anouk Perleman-Jacob berichten, die ganze Verschiffung sei ein persönlicher Rachefeldzug von Lenin gewesen und habe sich nur gegen einen einzigen Mann gerichtet: gegen Nikolai Alexandrowitsch Berdjajew, den Philosophen. Die anderen seien lediglich dazu da gewesen, «um zu verschleiern, dass der Führer der Revolution ein kleinlicher, rachsüchtiger Mann war.» Berdjajew habe nämlich in einer kleinen Zeitschrift ein Buch von Lenin zerrissen. Ein philosophisches Buch. Lenin habe sich eingebildet, er sei obendrein auch noch Philosoph. Und Berdjajew habe ihm alle  Fehler, Fehlschlüsse und Ungereimtheiten nachgewiesen. Wer Berdjajews Kritik gelesen habe, dem sei klar geworden, dass das ganze Buch von Lenin durch und durch ein Schmarren war, ein reiner Plunder. Das habe ihm Lenin nicht verziehen.

Ein russischer Autokrat, der sich als Hobby-Philosoph betätigt. Die Anspielung auf den gegenwärtigen russischen Autokraten, der sich als Hobby-Historiker betätigt, ist mehr als nur deutlich. Im Buch sagt Anouk Perleman-Jacob:

Wir, also meine Familie, ich, meine Mutter, mein Vater, wir haben unsere Heimat verloren, weil Lenin ein dummes Buch geschrieben hat. Trotzki war ein guter Organisator, einen besseren findest du nicht. Der sagte, wenn schon, denn schon, dann nicht nur ein Dutzend von denen, sondern gleich ein paar hundert. Da waren viele dabei, die man hätte brauchen können. Dennoch! Weg mit ihnen! Einer zerstört ein ganzes Land, richtet Millionen Menschen zugrunde, lässt Millionen umbringen, schafft eine neue Gesellschaft — man denkt, solche Männer handeln aus ebenso großen Motiven, weltumfassenden Motiven, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit, Friede, Ordnung, Ruhe. Und dann stellt sich heraus, es ist gar nicht so. Er ist gekränkt worden, persönlich gekränkt. Wie die Millionen, die er ins Unglück stürzt, auch irgendwann einmal gekränkt worden sind. Weil ihnen einer die Frau ausgespannt hat, weil ihnen ein anderer in der Arbeit vorgezogen wurde, weil ihnen einer ins Gesicht gesagt hat, was für arme Würstchen sie sind. Der eine haut auf den Tisch, beißt sich in die Faust, schreibt einen Leserbrief — der andere zündet die ganze Welt an. (S. 47)

Anouk Perleman-Jacob und ihre Eltern werden also per Schiff ausgeschafft. Die kleine Anouk beginnt, obwohl das strikt verboten ist, aus Langeweile, auf dem Schiff herumzuwandern. Die unfreiwilligen Passagiere sind in der dritten Klasse untergebracht. Das Mädchen schafft es, aussen herum in die zweite und dann in die erste Klasse zu klettern. Alles leer. Bis auf das Sonnendeck der ersten Klasse. Da sitzt in einem Rollstuhl, mit einer Wolldecke über den Knien, Lenin. Ein alter, kranker Mann. Die Augen hohl und gross. Knebelbart und Schnauzer, Ohrenschützer. Haut und Knochen. Eingehüllt in mehrere Decken. Bis zum Hals hinauf.

Natürlich kann diese Begegnung so nicht stattgefunden haben. Sie ist trotzdem glaubwürdig erzählt. Die Gespräche zwischen der kleinen Anouk und dem alten Lenin werden zur Auseinandersetzung zwischen der aufbrechenden Auswanderin wider Willen und dem Stellvertreter für das autokratische Russland. So lassen sich die Gespräche auch auf die Gegenwart beziehen.

Im Buch sagt die hundertjährige Anouk: Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit – das kann niemand von niemandem verlangen. Ein bisschen Wahrheit aber schon. (S. 180) Und ein bisschen wahr ist die Geschichte auf jeden Fall. Die Philosophenschiffe hat es gegeben. Bis heute lässt Russland kritische Intellektuelle nicht im Land leben – nur macht sich die aktuelle Führung nicht mehr die Mühe, sie auszuschaffen. Auch in der Realität ist es für uns schwierig, in dem Geflecht von Lügen und Tatsachen die Wahrheit zu finden. Im Buch sagt Anouk ganz zu Beginn zum Schriftsteller, der ihre Geschichte aufzeichnen soll, sie habe ihn ausgewählt, weil ihm niemand glauben werde: «Gesagt werden soll es. Und wenn es keiner glaubt, umso besser. Aber erzählt werden soll es.» (Seite 11) Am Ende des Buchs erinnert sie ihn daran: Vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt. (Seite 221)

Das zeigt, wie vertrackt die Sache mit der Wahrheit in diesem Buch ist: Wahr ist nur das, was Sie nicht glauben. Und umgekehrt: Was Sie glauben, ist nicht wahr. Und wenn Sie das glauben, dann ist auch das natürlich nicht wahr. Was aber ganz sicher stimmt: Es mag erfunden sein. Aber es ist wunderbar erzählt.

Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Hanser, 224 Seiten, 34.90 Franken; ISBN 978-3-446-27942-1

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783446279421

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 22. Februar 2024, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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Quelle:
Ingold, Felix F. (2000): Auf dem Philosophenschiff. Lenins grosse «Operation» gegen die russische Intelligenz. In: NZZ, 6. Juni 2000, S. 66.