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Das Licht in den Wellen

Publiziert am 29. Mai 2025 von Matthias Zehnder

Kennen Sie das Gefühl, dass die Welt manchmal kaum noch auszuhalten ist? Alles scheint düster, eine schlechte Nachricht jagt die nächste. Wenn es Ihnen auch so geht, habe ich genau das richtige Buch für Sie: eine Geschichte voller Wärme, Witz und Widerstandskraft. Im Zentrum steht Inge Volquardsen – eine Frau von der Insel Föhr, die 1947 Hals über Kopf nach New York auswandert. Dort, in der riesigen Metropole, stürzt sie sich in die Arbeit und beisst sich durch. Jahrzehnte später, fast hundertjährig, macht sie sich noch einmal auf den Weg über den Atlantik – diesmal auf einem Kreuzfahrtschiff, begleitet von ihrer zwanzigjährigen Urenkelin Swantje. Gegen den Willen ihrer Familie: Inge soll gefälligst zu Hause bleiben und ihren Hundertsten auf Föhr feiern. Doch Inge liess sich noch nie etwas sagen – und denkt nicht daran, damit jetzt anzufangen. An Bord des Luxusliners «Caribbean Sea» erinnert sie sich zurück an ihre erste Überfahrt auf einem dänischen Frachter, an ihre Jugendjahre auf Föhr, an die harte Anfangszeit in New York. Damals heuerte sie im Delistore von Gerd Jessen an, einem jungen Händler aus Föhr mit einem florierenden Delikatessenladen mitten in Manhattan. Er ist nicht der einzige Auswanderer aus Föhr: Ende des 19. Jahrhunderts und wieder nach dem Zweiten Weltkrieg wanderten viele Föhrer nach New York aus und fanden Arbeit im Feinkosthandel, so wie Inge Volquardsen. In meinem 257. Buchtipp sage ich Ihnen diese Woche, warum die Lektüre ihrer Geschcihte in diesen düsteren Zeiten so richtig gut tut.

 

Die nordfriesische Insel Föhr war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein abgelegener, karger Ort. Die Menschen lebten vom Fischfang und von einer Landwirtschaft, die kaum mehr als das Nötigste abwarf. Wirtschaftlich schwach und ländlich geprägt, bot die Insel nur wenigen eine echte Perspektive. Das änderte sich erst in den Sechziger Jahren, als Föhr zum begehrten Ziel von Touristen und begüterten Menschen aus der Stadt wurde. Bis dahin jedoch war das Leben hart – besonders für die Jüngeren. Viele Familien hatten zahlreiche Kinder, doch nur eines davon konnte den Hof übernehmen. Für die anderen gab es kaum Alternativen. Kein Wunder also, dass viele junge Föhrer ihr Glück in der Ferne suchten.

Schon im 19. Jahrhundert wanderten viele junge Föhrer in die USA aus. In New York bildeten sich rasch ganze Gemeinschaften von Nordfriesen. Wer es geschafft hatte, schickte Geld, Kleidung und Lebensmittel zurück auf die Insel. Das lockte weitere junge Menschen an die Ostküste der USA. In New York fanden viele Föhrer Arbeit im Feinkost- und Lebensmittelhandel, in «Delis» – also in Delikatessenläden, wie sie in New York allgegenwärtig waren. Manche eröffneten eigene Geschäfte und spezialisierten sich auf norddeutsche Spezialitäten. Sie trafen damit nicht nur den Geschmack der deutschen Auswanderergemeinschaft, sondern auch jenen vieler Amerikanerinnen und Amerikaner. Das Deli-Geschäft bot solide Verdienstmöglichkeiten – und einen Weg, in der neuen Welt Fuss zu fassen.

Und die Delis wurden zur Anlaufstelle für junge Menschen aus Föhr, die ihr Glück in den USA suchen. Unter ihnen ist auch Inge Volquardsen: Sie heuert bei Gerd Jessen an, einem Föhrer, der erfolgreich einen Deli gegründet hat, ein Feinkostgeschäft mit Lebensmitteln, viele davon aus der alten Heimat. Als Inge Volquardsen 1947 nach New York auswandert, ist sie vor allem überwältigt von der Grösse und der Lautstärke der Stadt.

Eine Nacht lagen sie vor Manhattan auf Reede. Es war über zwanzig Grad, die Luft dunstig. Inge blieb mit Karolina bis weit nach Mitternacht an Deck. Sie schloss die Augen und hörte Autohupen, Sirenen von Kranken- oder Polizeiwagen, Fetzen von Blasmusik drangen an ihr Ohr, hin und wieder durchschnitt eine Kreissäge alle anderen Geräusche. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und konnte es immer noch nicht fassen: Sie stand tatsächlich an Deck eines dänischen Frachters, und New York war zum Greifen nah! Die Hochhäuser waren noch höher, als sie es sich vorgestellt hatte, sie zählte dreißig, vierzig, fünfzig beleuchtete Fenster übereinander! Und die Dächer kratzten wirklich an den Wolken. In der Marsch war sie immer der höchste Punkt in der Landschaft gewesen, hier war sie nichts. Was sollte ein Bauernmädchen aus Oldsum hier anfangen? Die kein Englisch sprach und nichts konnte außer Kartoffeln sammeln und Kühe melken? In Manhattan gab es keine Äcker und Ställe. Um in New York zu überleben, brauchte sie ganz andere Fähigkeiten und jede Menge Kraft. (Seite 68)

Ein starkes Bild: Zu Hause auf Föhr war Inge als Mensch immer der höchste Punkt in der Landschaft gewesen. In New York ist sie dagegen winzig klein, ja nichts mehr. Inge ist klar: Die Devise hier heisst «sink or swim». Anpacken ist sie von klein auf gewohnt. Schon als sie vier Jahre alt war, musste sie bei Regen auf dem Dachboden die voll getropften Eimer einholen. Damals war sie die Kleinste in der Familie und konnte als Einzige auf dem Dachboden aufrecht gehen. War ein Eimer zu schwer, füllte sie die Hälfte in einen weiteren und ging zweimal. Mit der kleinen Landwirtschaft konnten ihre Eltern die vier Mitglieder der Familie gerade so versorgen. Für ein neues Dach kam nicht genug Geld herein. Also musste die Familie bei Regen Eimer und Wannen aufstellen und damit auf dem Dachboden das hereindringende Wasser auffangen. Ihre Eltern nahmen es klaglos hin, dass es immer so anstrengend bleiben würde, ohne dass sich etwas änderte. So war das Bauernleben nun mal, sie kannten es nicht anders.

Der Hof lag direkt hinter dem Seedeich. Jedes Mal, wenn sie aus der Haustür trat, war die Welt weit und groß. Der Himmel über der tellerflachen Marsch sah immer anders aus, mal standen die Wolken unbeweglich über den Reetdächern, mal jagten sie Richtung Horizont. Kam der Seewind von hinten, schob er die Kinder des Dorfes voran, was die kleine Inge damals zu nutzen gelernt hatte: Weitsprung mit Rückenwind fühlte sich fast wie Fliegen an. Aus der Gegenrichtung wurde der Wind ihr Herausforderer. Außerdem liebte sie es, am Strand das Kommen und Gehen der Gezeiten zu beobachten, von frühester Kindheit an spürte sie, ob sie auf- oder ablaufendes Wasser hatten, auch wenn sie nicht am Meer war. Das hatte sie wohl von ihrer Mam geerbt, deren Gemütszustand stark vom Mond abhing. (Seite 37)

In New York gibt es nichts, worauf sich Inge freut. Alles, was sie kennt und liebt, bleibt auf Föhr zurück. Und dazu kommt, dass sie sich zwischen all den Wolkenkratzern winzig fühlt. Sie macht, was sie schon immer gemacht hat: Sie stürzt sich in die Arbeit. Wie ihre Eltern nimmt sie es klaglos hin, dass sie sich anstrengen muss. Bei ihren Eltern hat sie ja gesehen, dass das Leben anstrengend bleibt, ohne dass sich etwas ändert. Genau das aber ist in New York ganz anders: Inges Einsatz zahlt sich rasch aus.  Ihre zupackende Art kommt gut an und ihre Rezepte erst recht.

Die hat sie von Carl: Bei ihm im Dorfgasthof hat sie oft ausgeholfen. Er hat sie dafür in seine Küche eingeführt. Die meisten Zutaten stammten von der Insel, importiert wurde kaum etwas, nicht einmal vom Festland. Einzige Ausnahme war die Maggi-Sosse, die zum Nachwürzen auf jedem Tisch stand. Zusammen mit Carl hat sie in der Küche experimentiert. «Spinnerte Köken» nannte Carl seine eigenwilligen Variationen. Als Matrose ist er auf allen Weltmeeren zur See gefahren. Auf seinen Reisen hat er sich von den einheimischen Köchen zeigen lassen, wie die ihr Essen zubereiten und hat ihre Gewürze nach Hause gebracht. Bei ihm hatte Inge Curry, Koriander oder Chili kennengelernt, aber auch die Wildkräuter von der Insel Föhr. Strandportulak zum Beispiel oder Queller, flauschiger Hasenklee, Labkraut, Taubenkropfkraut, Spitzwegerich, Schafgarbe, Hagebuttenblüten, Röhrkohl und Dornmelde. Auf Long Island findet Inge viele dieser Kräuter wieder – und in der New Yorker China Town alle exotischen Gewürze, die Carl in seinem Keller hatte. Sie beginnt, in ihrer Freizeit damit zu experimentieren und variiert den Kartoffelsalat, den sie bei Gerd zubereiten muss, bis ihre eigene Interpretation davon als «Inge’s magic potato salad» berühmt wird.

Inge’s magic potato salad wurde ein Riesenerfolg. Bald kamen sogar Leute aus Brooklyn in Gerds Deli, um ihn zu kaufen. Eine New Yorker Zeitung berichtete darüber, inklusive Foto von Inge, auf dem sie sich allerdings scheußlich fand. Trotzdem kaufte sie sieben Exemplare der Ausgabe und schickte sie ihren Eltern und Freunden nach Föhr – und natürlich Carl, der ihr herzlich gratulierte. Einige Geschäfte versuchten, den Salat zu kopieren, aber Inges spezielle Mischung bekam niemand hin. (Seite 157)

Inge erlebt auf diese Weise New York als Gegenteil von Föhr: Auf der Insel war sie als Mensch zwar  immer der höchste Punkt in der Landschaft, aber auch die härteste Arbeit und die grösste Anstrengung änderte nichts am kargen Schicksal der Menschen auf Föhr. In New York ist es genau umgekehrt: Sie fühlt sich winzig klein zwischen den Wolkenkratzern, aber die harte Arbeit zahlt sich rasch aus. Inge erlebt, dass sie etwas bewirken kann. Das wird auch zum grössten Unterschied, der im Kontakt mit den Föhrerinnen und Föhrern sichtbar wird, die auf der Insel geblieben sind: Die schicken sich in ihr Schicksal. Sie haben erlebt, dass sie nichts ändern können. Klar, dass das zu Konflikten führt. Bis ins hohe Alter: Selbst als Inge kurz vor ihrem Hundertsten Geburtstag steht, will sie sich nicht mit dem abfinden, was die Insulaner für sie geplant haben. Gegen den Willen von Sohn Tom und ihrer Enkel organisiert sie sich ein Ticket auf einem Kreuzfahrtschiff und schippert, begleitet von Urenkelin Swantje, zurück nach New York. Sie will «ihre» Stadt noch einmal sehen – und ihrer Urenkelin das Erlebnis der Selbstwirksamkeit ermöglichen.

Das ist denn auch das Schöne am Buch von Janne Mommsen: Ihm ist ein wunderbares Porträt einer eigensinnigen Frau aus Föhr gelungen, die vorlebt, dass man sich mit seinem Schicksal nicht abfinden muss und auch als Winzling in New York einen grossen Unterschied machen kann. Das ist schön zu lesen und es macht auch Mut. Wenn sich eine junge Frau aus Föhr in Manhattan durchsetzen kann, auch wenn sie kein Wort Englisch spricht und nur gerade Kartoffeln schälen kann, dann haben wir vielleicht in unseren eigenen Leben doch noch eine Chance.

Schön ist dabei auch, wie Inge sich dem Fremden öffnet, ohne die Heimat und ihre Wurzeln dabei zu verleugnen. Sie zieht im Gegenteil in der grossen Stadt immer wieder Kraft aus ihrer Herkunft, aus den Erinnerungen und dem Ferring, der Sprache von Föhr. Zum Beispiel, als sie von Bankdirektor David Leary, einem ihrer Kunden und einem Fan des Magic Potatoe Salad, in dessen Büro eingeladen wird, weil seine Sekretärin ihr Englischunterricht geben könnte:

Einige Tage später kam die Stunde der Wahrheit, deren Ergebnis schon vorher feststand: Von der englischen Sprache hatte Inge keine Ahnung! Ihr graute vor Ms. Fry. Als sie das erste Mal die riesige Eingangshalle der Manhattan Bank betrat, fühlte sie sich winzig. Boden und Wände waren in Marmor ausgeschlagen und makellos sauber, er erinnerte eher an eine Kirche als an ein Bürogebäude. Wobei die größte Kirche, die sie je gesehen hatte, der Friesendom in Nieblum war, und der passte hier bestimmt zweimal hinein. Gegenüber befanden sich vier Aufzüge –schon wieder Aufzüge! –, vor denen uniformierte Wachleute standen. Sie musste die große Halle einmal längs durchqueren, was sie verunsicherte. Bis sie sich einfach vorstellte, dass es das Wattenmeer war, dann ging es. Jeder ihrer Schritte hallte. Hinter einem Pult aus Edelholz saß ein Mann in dunkelblauer Uniform, der sie misstrauisch musterte. Sie wagte es kaum, zu ihm zu gehen, aber sie war nun mal hier verabredet und musste sich anmelden. «Guten Tag, Madam, was kann ich für Sie tun?» «Ich bin um 5 p.m. im Büro von David Leary verabredet», sagte sie leise. Gerd hatte ihr extra dafür freigegeben. «Ihr Name?» «Inge», antwortete sie. «Inge Volquardsen.» «Wie bitte? Wo kommen Sie her?» «A small Island in …» «Schreiben Sie Ihren Namen bitte auf.» Er legte Zettel und Stift auf den Tresen. Daraufhin griff er zu dem Telefon auf seinem Pult und wählte eine Nummer. «Ms. Fry, hier ist eine Inge Vollcery or something like that, die behauptet, sie hat ein Date im Büro von Mr. Leary … Ja? Okay.» Er nickte einem der Männer vor dem Aufzug zu. (Seite 92f.)

Beim Einschlafen stellt Inge sich den Blick von Oldsum auf die Insel Sylt vor, wenn die Flut eine erste Pfütze über das Watt schickt, die Austernfischer zirpen, Sie stellt sich vor, wie die Sonne hoch am Himmel steht und ihr ein sanfter Wind durch die Haare weht. In New York gibt es vieles, was es auf Föhr nicht gibt. Aber nicht diese Ruhe und Erhabenheit. Die Erinnerung an Föhr hilft ihr nicht nur beim Einschlafen. Weil sie so starke Wurzeln auf Föhr hat, findet sie in New York die Stärke, sich durchzusetzen. Das ist nicht nur schön erzählt, es hilft auch, zu verstehen, wie Einwanderer bei uns die Brücke schlagen von Sri Lanka, Anatolien, Damaskus oder Eritrea zu uns. Bleibt nur zu hoffen, dass sie sich ähnlich selbstwirksam erleben wie Inge in New York.

Die erlebt in der grossen Stadt natürlich noch viel mehr als Erfolge mit Kartoffelsalat. Sie findet Freunde und verliebt sich, wagt den Schritt in die Selbstständigkeit und führt ein Restaurant, kehrt zurück nach Föhr, hält es aber nicht lange aus auf der Insel. Weil Janne Mommsen die Lebensgeschichte von Inge als Erinnerung der fast Hundertjährigen erzählt, die mit Urenkelin Swantje noch einmal nach New York aufbricht, verströmt das Buch grosse Gelassenheit. Und jene zartbittere Süsse, die Erinnerungen mit sich bringen. Der Roman ist deshalb der perfekte Aufheller für dunkle Tage – und eine Fortsetzung ist auch schon angekündigt.

Janne Mommsen: Das Licht in den Wellen. Eine Familiengeschichte zwischen New York City und Föhr. Rowohlt, 464 Seiten, 31.690 Franken; ISBN 978-3-499-01584-7

Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783499015847

Weitere Buchtipps gibt es hier: https://www.matthiaszehnder.ch/video-buchtipp/

Basel, 05.06.2025, Matthias Zehnder

Eine Übersicht über alle bisher erschienen Buchtipps finden Sie hier:

https://www.matthiaszehnder.ch/aktuell/buchtipps-uebersicht/

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