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Das Leben vor uns
Wir alle schauen derzeit entsetzt nach Russland: Was ist nur aus dem Land von Puschkin und Tschechow, von Prokofjew und Strawinski geworden? Warum waren die Reformen von Michail Gorbatschow nicht nachhaltig? Wie konnte es zum Putinismus kommen? Kristina Gorcheva-Newberry beantwortet diese Fragen nicht. Sie ist ja auch keine Politologin, sondern eine Schriftstellerin. Sie erzählt in ihrem Roman «Das Leben vor uns» die Geschichte von zwei Mädchen, die in den letzten Jahren der Sowjetunion aufwachsen. Politik spielt darin keine Rolle: Breschnew, Andropow und Tschernenko sehen die Mädchen allenfalls bei der Neujahrsansprache im Fernsehen. Gorcheva schildert präzis und sprachmächtig den Alltag der beiden in der zerfallenden Sowjetunion. In Kleinen, in Gesprächen, in den Träumen der Menschen wird spürbar, was der Zerfall bedeutet. Gorcheva erklärt damit mehr als viele Politologen in ausführlichen Analysen – und erzählt gleichzeitig mit wunderbar präziser Sprache die Coming-of-Age-Geschichte von zwei Mädchen in Moskau. Für mich gehört «Das Leben vor uns» zum Besten, was ich dieses Jahr gelesen habe – in meinem 119. Buchtipp sage ich Ihnen, warum ich den Roman so gut finde.
Anja Ranewa und Milka Putowa sind beste Freundinnen. Sie gehen zusammen zur Schule, sie verbringen die Freizeit miteinander, ja: Milka lebt eigentlich mehr bei Anja als bei sich zu Hause. Im Roman erzählt Anja als Ich-Erzählerin, wie sie mit Milka zusammen aufwächst. Die Erzählung setzt ein, als die beiden Mädchen zehn Jahre alt sind. Die beiden wissen, dass sie immer Freundinnen sein werden und dass sich daran nie etwas ändern würde.
Sie wachsen in Moskau auf, die Sommer verbringen sie mit ihren Eltern und der Grossmutter auf der Datscha. Das ist ein bescheidenes Landhäuschen, mehr eine Baracke, mit einem Garten darum herum, wo Gemüse, Beeren und eine ganze Reihe von Apfelbäumen wachsen. Diese Apfelbäume werden zum zentralen Motiv im Roman. Wie im «Kirschgarten» von Anton Tschechow die Kirschbäume für die untergehende Klasse der Grossgrundbesitzer stehen, stehen hier die Apfelbäume für die untergehenden Bürger, ja die Bürgerlichkeit in der Sowjetunion. Überhaupt ist das Buch voller Anspielungen an den «Kirschgarten» von Tschechow, man muss sie aber nicht erkennen und verstehen, um den Roman lesen und geniessen zu können.
Anja und Milka wachsen also in der Sowjetunion auf. Es sind die letzten Jahre von Breschnew, eine Zeit, die wir im Westen als bleiern erlebt haben. Es war die Zeit des kalten Krieges, die Grossmächte standen sich in Europa bis an die Zähne bewaffnet gegenüber. In Moskau erleben die beiden Mädchen diese Zeit anders. Sie besitzen zwar wenig, erleben aber eine unbeschwerte Jugend. Schliesslich kennen sie nichts anderes.
«Wie die meisten Russen hatten wir die Sowjetunion nie verlassen, und alle fremden Städte waren für uns so weit weg und so unerreichbar wie der Mond. Wir konnten nicht ahnen, dass der Eiserne Vorhang bald fallen würde oder dass der Rest der Welt anders war und nicht von denselben brutalen Reglementierungen beschränkt wurde oder von der jahrelangen eisernen Faust eines Diktators. Wir betrachteten unsere damalige Regierung nicht einmal als Diktatur, wir nahmen die Dinge hin wie die unausweichliche Abfolge der Jahreszeiten: Pappelflaum und Apfelblüten im Frühjahr und die eiskalte, starre Blindheit des Schnees im Winter. Weil man machtlos war, und vielleicht auch immun gegen Veränderungen, musste man sie ertragen. Doch auch wenn diese Gründe nicht griffen, waren Veränderungen nie zum Besten oder zum Wohl des Volkes. «Dieses Land ist zu alt und zu störrisch», sagte meine Grossmutter immer, und dann nickten Milka und ich und schoben uns ihr Sauerkraut in die Backentaschen.» (S. 15)
Doch dann stirbt Leonid Breschnew und Juri Andropow übernimmt als Staatsoberhaupt der Sowjetunion, allerdings nur für wenige Monate. Er stirbt ebenfalls und Konstantin Tschernenko tritt an seine Stelle. Aber auch der regiert das Land nicht lange und es übernimmt Michail Gorbatschow. Den Mädchen ist das einerlei. Die Eltern aber machen sich Sorgen. Langsam aber sicher zerfällt ihre Welt. Gorcheva sagt das nicht explizit, sie macht es sichtbar im Alltag der Eltern von Anja und ihrer Grossmutter. Und dann erreicht nach der Machtübernahme von Michail Gorbatschow die Politik auch das Klassenzimmer von Anja und Milka.
«In jenem Frühjahr waren wir noch keine siebzehn, unser Wortschatz hatte sich sich um zwei Wörter erweitert – Perestroika und Glasnost – und unsere Geschichtsprüfung sollte gestrichen werden. Wie sich herausstellte, hatten wir nämlich keine Geschichte mehr: Die Vergangenheit unseres Landes musste gründlich revidiert oder sogar völlig neu geschrieben werden. Da wir nicht für die Prüfung lernen mussten und obendrein dazu auserkoren waren, die Verwandlung eines verarmten, terrorisierten Landes in ein freies, wohlhabendes, demokratisches Land mitzuerleben, schwankten wir zwischen Glücksgefühlen und unserer eigenen Bedeutsamkeit. Wir begriffen nicht, dass es sehr lange dauern und ungeheuer anstrengend sein würde, unser Mutterschiff zu überholen – und es war uns auch egal.» (S. 191)
Den Eltern allerdings ist es nicht egal. Beide sind Raumfahrtingenieure, leben aber von einem äusserst bescheidenen Gehalt. Vor allem der Vater ist ein Kind der Breschnew-Ära. Er sieht sich verletzt in seinem Stolz. Die Diskussionen bei Tisch werden heftiger, manchmal scheint der Vater kurz davor, zuzuschlagen. Zwar werden die Träume im Land grösser, das Essen auf dem Tisch wird aber karger. Grossmutter erzählt häufiger von der Zeit der Belagerung in Leningrad, als sie von Wurzeln und Gras und Schlimmerem lebten. Der Wandel, den wir uns im Westen als etwas Wunderbares und Befreiendes vorstellen, erweist sich auf dem kargen Boden der Sowjetunion als mühsame Angelegenheit.
«Überall ringsum erzeugte der Wunsch nach politischem und wirtschaftlichem Wandel nur noch mehr Verzweiflung und Verwirrung. Die Lehrer blieben im Unterricht stecken, weil sie nicht wussten, was sie als nächstes unterrichten oder als Hausaufgaben geben sollten. In der Pause berieten sie sich in der Cafeteria oder der Turnhalle oder im Rektorat; sie gingen mit hängenden Köpfen durch die Gänge, den Blick auf den Boden geheftet, als würden sie nach etwas Richtigem suchen, das dort zu finden war, und das sie uns geben konnten. Wir wurden still und wachsam und kamen uns manchmal wie Maschinen vor, wie Roboter mit rostigen Teilen und defekter Schaltung. In dem Wissen, dass wir alles Gelernte wieder verlernen mussten, schlurften wir von einem Klassenzimmer ins nächste. Wir tratschten auch und brodelten vor Fragen, auf die keiner eine Antwort wusste: Sind wir jetzt frei? Können wir nach Lust und Laune überall hinfahren? Können wir offen Zoi hören und Queen? Können wir Levis-Blue-Jeans kaufen? Und wenn Lenin und Stalin abscheuliche Typen waren und die Millionen Menschen, die an sie glaubten, betrogen hatten und so viele unschuldige, aber ungehorsame Russen ermordet hatten, wer war noch übrig, um das Land in Zukunft zu regieren? Was bringt die Zukunft? Können wir den Gulags jetzt einen Besuch abstatten?» (S. 219)
Es sind diese Sätze, die von erschreckender Aktualität sind und uns vor Augen führen, dass es nicht damit getan ist, die Führung eines Landes auszuwechseln.
Kristina Gorcheva zeichnet den Wandel der Sowjetunion von Breschnew über Andropov und Tschernenko zu Gorbatschow präzise im Kleinen nach: auf dem Küchentisch, in der Schule, beim Schulausflug auf die Krim, an der Abschlussparty. Obwohl sie nie über den Staat und die Politik schreibt, sind sie stets präsent und spürbar, als graue Wand im Hintergrund, auf dem Esstisch, im Buchregal, auf dem Plattenspieler. Der Lieblingssong von Anja und Milka ist «We are the Champions» von Queen – sie singen das Lied nicht nur, sie fühlen sich auch so, bis ein schreckliches Ereignis Anja dazu bringt, nicht nur ein Auslandsemester in den USA zu verbringen, sondern danach gleich in Amerika zu bleiben. Kristina Gorcheva ist selbst diesen Weg gegangen: Sie ist in der Zeit, die sie im Buch darstellt, in Moskau aufgewachsen – man merkt beim Lesen, dass sie genau weiss, wie der Apfel aus dem Garten der Datscha oder die Limonade schmecken und wie es in Moskau riecht und aussieht.
Ihre Romanfigur Anja besucht Moskau erst über 20 Jahre später wieder, als Bauspekulanten den Apfelbaumhain bedrohen und die Datschen ihrer Eltern und deren Nachbarn aufkaufen wollen. Wenn Sie den «Kirschgarten» von Tschechowa kennen, wissen Sie, wie die Geschichte ausgehen wird – allen anderen sei die Spannung nicht genommen. Anja kehrt zurück, als Putin an der Macht ist – auch ihn erleben wir nicht direkt im Buch, sondern nur über den Alltag der Russen, die plötzlich Zugang haben zu McDonalds und Cola, westlichen Autos und Musik. Wenigstens die, die es sich leisten können. Anjas Eltern gehören nicht dazu.
Für mich ist der Roman von Kristina Gorcheva-Newberry eines der besten Bücher, das ich dieses Jahr gelesen habe. Es ist Literatur im besten Sinn: Eine spannende Geschichte, sprachlich wunderbar eigenwillig in schöne Bilder verpackt. Die grosse, abstrakte Politik wird im Kleinen erlebbar und für Kenner gibt es erst noch viele Anspielungen an den «Kirschgarten». Und dann ist es auch noch aktuell: Am Tag, als ich diesen Buchtipp aufzeichne, ist im Alter von 91 Jahren Michail Sergejewitsch Gorbatschow gestorben.
Kristina Gorcheva-Newberry: Das Leben vor uns. Roman. Beck, 359 Seiten, 36390 Franken; ISBN 978-3-406-79131-4
Erhältlich ist das Buch hier: https://www.biderundtanner.ch/detail/ISBN-9783406791314
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Basel, 31. August 2022, Matthias Zehnder
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